Die Brut
für ihre Stiefmutter. Und für Feli. Ihre Schwester hatte seit jenem Grillabend noch ein paarmal angerufen, aber Tessa hatte das Gespräch nie angenommen, wenn sie auf dem Display die Nummer ihrer Schwester erkannte.
Gab es sonst noch jemanden aus ihrer Verwandtschaft, den sie einladen musste? Sie hatte genau zwei Onkel, zwei Tanten und zwei Cousinen. Der eine Onkel arbeitete bei der Sparkasse in dem Provinzkaff, aus dem sie stammte, der andere Onkel war bei der Raiffeisenbank zwei Käffer weiter angestellt gewesen und letztes Jahr in Rente gegangen. Von den beiden Tanten arbeitete nur die eine, sie betrieb einen kleinen Blumenladen. Die Tochter des Sparkassenonkels hatte eine Banklehre gemacht und war zum Ärger ihres Vaters zur Raiffeisenbank gegangen. Die Tochter des Raiffeisenonkels war vor Jahren in der Amsterdamer Drogenszene verschwunden. Bei der Beerdigung ihrer Mutter hatte Tessa alle zum letzten Mal gesehen. Nur die Blumenladentante, die Schwester ihrer verstorbenen Mutter, hatte vor zwei Jahren einmal bei ihr angerufen, um ihr zu erzählen, dass sie sie im Fernsehen gesehen habe. Das Gespräch war eigentlich ganz nett gewesen, aber wenn sie die Blumenladentante einlud, musste sie auch den Sparkassenonkel einladen, mit dem diese aus unerfindlichen Gründen immer noch verheiratet war.
Mit einem Seufzer legte Tessa den Kugelschreiber weg, streckte sich und ging hinunter zu Sebastians neuem Arbeitszimmer. Er war tatsächlich in das ehemalige Gästezimmer umgezogen.
Vorsichtig klopfte sie an die Tür. »Störe ich?«
»Nein. Gar nicht.«
Sebastian saß am Schreibtisch. Es war hier viel enger, die meisten Bücher und Kartons lagen in irgendwelchen Stapeln herum, nicht einmal das Lorbeerkranzfoto hatte Sebastian aufgehängt. Tessa trat neben ihn, gab ihm einen Kuss, und er legte den Arm um ihre Hüften.
»Ah«, sagte sie, »du kämpfst auch gerade mit den Listen.«
Er grinste. »Siebzehn Cousins. Und neun Cousinen. Der Wahnsinn. Von Melbourne bis Buenos Aires.«
»Mir ist da gestern eine Idee gekommen«, wechselte Tessa das Thema, bevor Sebastian anfing, ihr von seinen dreiundfünfzig Nichten im diplomatischen Außendienst zu erzählen. »Was hältst du davon, wenn Nuala in der Kirche singt?«
»Nuala? Dieses krebskranke Popsternchen, das bei dir in der Sendung war?«
»Ich habe mit ihrem Manager gesprochen, es geht ihr viel besser, seitdem sie ihr die Milz herausgenommen haben.«
Sebastian runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Findest du das nicht ein wenig zu … zu …«
»Nuala würde sich freuen«, redete Tessa schnell weiter, »es wäre ihr erster Auftritt seit langem. Und sie hat wirklich eine wunderschöne Stimme.«
»Ich weiß nicht«, sagte Sebastian zum zweiten Mal. »Auch wenn es dieser Frau wieder besser geht.« Er schaute Tessa an. »Warum lassen wir nicht Feli singen?«
»Feli?« Sie spuckte den Namen ihrer Schwester aus, als habe sie aus Versehen einen zu großen Schluck Bärentraubenblättertee genommen.
»Du hast doch selbst gesagt, dass du magst, wie deine Schwester singt. Und ich fände es irgendwie richtiger, wenn es jemand aus der Familie wäre.«
Sebastian zog Tessa noch ein wenig näher zu sich heran. Tessa starrte aus dem Fenster. Sie zählte die Schornsteine auf der gegenüberliegenden Fabrikruine.
»Hat Feli dir eigentlich erzählt, dass sie die ganze Schwangerschaft und Stillzeit hindurch weitergekokst hat?«, fragte sie, als nur noch zwei Schornsteine übrig waren.
Sebastian ließ die Hand von Tessas Hüfte gleiten und schaute sie an.
»Erinnerst du dich an den Tag, wo sie Curt bei uns einfach vor der Tür abgestellt hat? Da drüben hat sie sich zwei Linien reingezogen. Und dann ist sie rausspaziert und hat Curt gestillt.«
»Das glaube ich nicht.«
»Ich kenne meine Schwester länger als du.«
Sebastian griff nach dem Füllfederhalter, der die ganze Zeit offen auf dem Schreibtisch gelegen hatte, und schraubte ihn zu. »Es war ja nur so eine Idee«, sagte er.
Tessa streichelte ihm über den Kopf. »Ich weiß, wir haben ausgemacht, dass wir erst nächste Woche über die Gästelisten reden. Aber ich habe vorhin nachgedacht. Wenn du Carola einladen möchtest, kannst du das gern tun.«
Sebastian schaute sie an, als verstünde er plötzlich die deutsche Sprache nicht mehr.
»Ich dachte nur«, sagte Tessa, »weil ich doch weiß, wie wichtig es dir ist, dass bei so einem Fest alle da sind, die dir etwas bedeuten.«
Eine Sekunde glaubte sie, die Wutader an
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