Die Brut
Victor begann zu lächeln, als habe er das Kompliment verstanden.
Ab dem dritten Monat ist das Lächeln kein unwillkürlicher Reflex mehr. Ab dem dritten Monat lächelt er bewusst
.
»Müssen wir nicht langsam mal anfangen?«, fragte Tessa und zog Victors Baumwollmützchen zurecht. Sie machte Katharina, die unauffällig in der Nähe der Tür geblieben war, ein Zeichen. Katharina war Ende dreißig und Elenas jüngere Schwester. Wochenlang hatten Sebastian und Tessa die verschiedensten Kinderfrauen zu Kennenlerngesprächen vorbeikommen lassen, keine hatte ihnen gut genug gefallen, als dass sie ihr Victor anvertraut hätten. Schließlich hatte Elena ihnen verraten, dass sie eine jüngere Schwester hatte, die selbst keine Kinder bekommen konnte, aber der beste Mensch im Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern sei. Leider kümmere sie sich zur Zeit um die Tochter eines berühmten Models und sei damit voll beschäftigt. Tessa hatte sofort gesehen, dass die blasse, dunkelhaarige Katharina mit der rauchigen Stimme und den langen schmalen Händen die richtige Kinderfrau für Victor war. Nachdem Sebastian mit ihr gesprochen hatte, war auch er bereit gewesen, das doppelte Gehalt zu zahlen. Katharina war gut. Trotzdem verspürte Tessa Unbehagen, als sie ihr jetzt das Körbchen mit Victor übergab.
»Ich denke, dass ich hier in einer bis eineinhalb Stunden fertig bin. Die Sekretärin zeigt dir das Zimmer, wo ihr am besten wartet. Der Tee ist in der Wickeltasche. Ich habe Vic vor einer Stunde noch mal gut gefüttert, eigentlich dürfte er keinen Hunger bekommen.«
»Alles klar.« Katharina lächelte und verschwand mit Victor im Flur. Tessa öffnete den Mund, um ihr hinterherzurufen, dass sie Victor in keinem Fall pudern sollte – die Dose mit dem Babypuder hatte Sebastian neulich aus Versehen in die Wickeltasche gepackt, Victor vertrug den Puder nicht – und machte den Mund wieder zu.
Attila hatte sich bereits ans Kopfende des hufeisenförmigen Tischs gesetzt, die Redakteure und Sekretärinnen, die für andere Sendungen arbeiteten, verließen langsam den Raum. Hoffentlich bekam Victor nicht doch Hunger. Er schien gerade einen neuen Wachstumsschub durchzumachen, seit Tagen war er noch gieriger als sonst. Tessa wagte nicht sich auszumalen, was passierte, wenn Katharina in dreißig Minuten ins Sitzungszimmer gehuscht kam, um ihr ins Ohr zu flüstern, dass Victor sich vor Hunger die Seele aus dem Leib schrie. Sie würde die Sitzung verlassen müssen. Unmöglich konnte sie ihren Sohn vor versammelter Runde stillen, wenngleich es Kolleginnen geben sollte, die das taten.
Attila wartete, bis Tessa sich auf ihren üblichen Platz links von ihm gesetzt hatte, und fing an. »Eigentlich hab ich’s allen schon gesagt, aber trotzdem nochmal offiziell: Ich bin froh, froh, froh, dass bei Tessa alles gut gegangen ist und
Auf der Couch
in die nächste Runde gehen kann.«
Es gab ein sechsstimmiges Fingerknöchel- und Stifte-auf-Holz-Getrommel. Tessa nickte abwesend. Schon am ersten Nachmittag hatte Katharina sie gefragt, wieso sie nicht mit Milchpumpe arbeite. Das sei so praktisch bei berufstätigen Frauen. Einfach morgens und mittags zwei Fläschchen abpumpen, in den Kühlschrank stellen, und dann könne sie Victor füttern, wann immer es nötig sei. Damals hatte Tessa geantwortet, dass sie lieber alle Viertelstunde ihre Sendung unterbrechen würde, als sich melken zu lassen.
»Und diese nächste Runde wird mit einem echten Knallstart beginnen«, redete Attila weiter.
Tessa musste sich zwingen, ihre Aufmerksamkeit von der Milchpumpe abzuwenden. Was hatte Attila eben gesagt? Knallstart? Seit Tagen las sie in den Romanen von Beate Schuster, die mit ihren Märchen vom einsamen Fischerjungen, der zu immer neuen Fahrten über die Weltmeere aufbricht und dort alle möglichen Abenteuer von A wie Ananaskobold bis Z wie Ziegenkaraoke erlebt, sensationell erfolgreich war. Tessa gefielen die Bücher nicht. Zu niedlich, zu nett. Der Literatur gewordene Strampelanzug für Erwachsene. Victor würde bestimmt jetzt schon vor Unterforderung schreien, wenn sie ihm diese Geschichtchen vorlas.
»Ihr alle wisst, dass die Behrens sich bislang auf ihrem Bauernhof verschanzt und jeden Kommentar verweigert«, sagte Attila, und Tessa wurde klar, dass sie eine wichtige Überleitung verpasst hatte.
Was war mit der Behrens? Sie hatte den Skandal mit der Neugier verfolgt, mit der man solche Skandale seit der Abschaffung des Circus Maximus verfolgte. Seit Tagen war
Weitere Kostenlose Bücher