Die Brut
gequatscht, wie wahnsinnig aufgeregt und stolz sie seien, und wann sie den kleinen Fratz denn endlich zu Gesicht bekämen. Ihr Vater hatte sich nur kurz geräuspert und
Ich wünsche dir und deinem Kind Gesundheit und alles Gute
gesagt. Das hellblaue Strickjäckchen aus Kunstfaser, das ihre Eltern geschickt hatten, hatte Tessa in den Müll getan, ohne es Sebastian zu zeigen. Seine Eltern hatten einen Kasten mit teurem Holzspielzeug geschickt, für das Victor noch viel zu klein war.
»Bieg da vorn doch mal links ab.«
»Was?« Tessa warf Sebastian einen knappen Seitenblick zu.
»Ich möchte mit dir noch wo hinfahren. Wir haben die Wickeltasche dabei, oder?«
»Ja.«
»Dann bieg da vorn links ab.«
Tessa schüttelte den Kopf, blinkte und bog in die entgegengesetzte Richtung, in der ihr Zuhause lag.
»Du willst in den Zoo?«, fragte sie, nachdem Sebastian sie auf den großen Parkplatz navigiert hatte.
»Das wollten wir doch schon die ganze Zeit. Im Herbst kommen wir dann wieder nicht dazu.«
Ihre Hände lagen auf dem Lenkrad, hinter dem Zaun hörte sie ein großes fremdes Tier schreien.
»Na. Was ist?« Sebastian hatte bereits seine Tür geöffnet und einen Fuß auf den Asphalt gesetzt.
Am Kassenhäuschen, das die Form einer Ananas hatte, kaufte er zwei Tickets, für Kinder unter drei war der Eintritt frei.
Es war Jahre her, dass Tessa zum letzten Mal den Zoo besucht hatte. Zu Beginn ihres Studiums, kurz nachdem sie in die Stadt gezogen war, war sie oft in den Zoo gegangen. Dann hatte sie den Elefanten, Nilpferden und dem einsamen Leoparden zugeschaut, wie sie ihre Köpfe gegen Gitterstäbe und Mauern schlugen, und hatte gefunden, dass ihr Leben doch nicht so schrecklich war.
Sebastian hatte an dem Kiosk gleich neben dem Kassenhäuschen zwei Eis am Stiel gekauft. Er befreite das Vanilleeis aus der Folie und hielt es Tessa hin. »Auf zu den Löwen!«
»Schau mal. Da drüben sind die Giraffen.« Die Giraffen waren Tessa immer entspannt vorgekommen. Keine Aufbegehrer. Keine Selbstzerstörer.
»Ich will aber zu den Löwen. Nicht wahr, Victor?«, sagte Sebastian und beugte sich über den Wagen. »Lööööööwen.«
»Meinst du nicht, dass er noch zu klein ist?«
»Ach was. Ich habe als Kind nichts Tolleres gekannt als Löwen.«
Sie kamen an einer Gruppe depressiv wirkender Pinguine vorbei. Ein Eisbär versuchte, auf seinen Fels zu klettern, immer wieder rutschte er ins Wasser zurück.
»Meinst du, der schafft das wirklich nicht?«, fragte Tessa.
»Der kriegt für das Kunststückchen heute Abend eine Extraportion Fisch.« Sebastian beendete sein Eis, warf den Stiel in einen Mülleimer, legte seinen frei gewordenen Arm um Tessa und marschierte in unvermindertem Tempo weiter.
Irgendetwas stimmte nicht. Er schob den Kinderwagen, als habe er am Löwenkäfig eine Verabredung, zu der er bereits zwanzig Minuten zu spät war. Den Zebras, Gnus und Bisons schenkte er so wenig Beachtung, als seien sie die Schaufensterauslagen einer Kurzwarenhandlung.
»Wollen wir nicht erst ins Aquarium? Da links müsste es sein.«
»Nachher.«
»Ich will dich ja nicht nerven. Aber was ist bei den Löwen so furchtbar wichtig, dass es keine halbe Stunde warten kann?«
Sebastian sagte nichts, setzte sein verschmitztes Lächeln auf und gab Tessa einen Kuss.
Der Geruch ließ schon von weitem keinen Zweifel mehr zu.
Raubtier. Fleisch. Urin. Unglück.
Tessa hoffte, dass die Löwen wenigstens im Freigehege waren. Im Freigehege war es nicht so schlimm wie drinnen.
Vorsicht! Der Löwe spritzt Urin durchs Gitter
. Sie erinnerte sich gut an die Tafel, die in altmodischer Handschrift links neben dem Käfig angebracht war. Und an das alte Muttchen mit den dicken Brillengläsern, das sich immer am Löwenkäfig herumgetrieben hatte, wie es die alten Muttchen sonst nur bei den Affen taten.
Mein Leo. Bist ein guter, ja. Ein guter
.
Die armseligen Strohhaufen, die man den Löwen hingeworfen hatte. Die türkisblauen Kacheln wie in einem Siebzigerjahre-Bad, der nackte Betonboden, auf den sie ihre Tatzen setzen mussten.
»Sind sie nicht großartig!« Endlich verlangsamte Sebastian seinen Schritt. Das Rudel war tatsächlich im Freien. Ein ausgetrocknetes Stück Land, Felsen, ein paar tote Stämme. Der Herr des Rudels lag auf dem obersten Felsen. Zwei Löwenweibchen unten im Schatten, ihre Jungen balgten sich im Staub. Das kleinere der Weibchen hatte dicke Zitzen, einige von ihnen waren entzündet.
Sebastian schob den Kinderwagen ganz nah an
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