Die Brut
größeren Kinderbett umzusehen. Es kam Tessa vor, als ob sie ihrem Sohn jetzt täglich beim Wachsen zusehen könne. Die Strampelanzüge und Hemdchen, die er in den ersten Tagen nach der Klinik getragen hatte, waren bereits alle zu klein.
Es war derselbe Antiquitätenladen, in dem sie damals den Stubenwagen gefunden hatten. Aber heute entdeckte Tessa nichts, das ihr gefiel. Die Verkäuferin hatte ihnen zwar ein Gitterbett gezeigt, aber irgendwie erinnerte es Tessa an den Kaninchenstall, der bei ihrer Großmutter auf dem Hof gestanden hatte. Sie wollte den Laden eigentlich schon verlassen und Sebastian überreden, es bei einem zeitgenössischen Babyausstatter zu versuchen, als er mit etwas Weißem, Bauschigen ankam, das ein Kopfkissenbezug der Madame Pompadour hätte sein können.
»Ist das nicht schön«, sagte er strahlend. »Ich glaube, genau so eins habe ich damals gehabt.«
Jetzt erst erkannte sie, worum es sich bei dem Kopfkissenbezug tatsächlich handelte.
»Was willst du denn damit?«, fragte sie.
Sebastian strich mit vorsichtigen Fingern über den Stoff. »Wir haben noch nie darüber gesprochen. Findest du nicht, dass wir Victor taufen sollten?«
»Taufen?«, wiederholte Tessa, als habe Sebastian soeben vorgeschlagen, ihren Sohn in einem rumänischen Waisenhaus abzugeben.
»Ich habe mit Kirche und dem ganzen Kram auch nichts am Hut. Aber es ist so ein schönes Fest. Ich finde, wir verpassen was, wenn wir das nicht machen.«
»Da haben Sie sich ja treffsicher unser Prachtstück herausgepickt«, sagte die Verkäuferin, die schneller herbeigekommen war, als Tessa sich eine Antwort überlegen konnte. »Alles reine Brüsseler Spitze, alles Handarbeit. Mindestens achtzig Jahre alt. Und so gut erhalten. Schauen Sie!«
»Es ist wirklich ganz zauberhaft«, sagte Tessa. »Aber ich glaube eigentlich nicht, dass wir Victor taufen.«
»Das ist nicht Ihr Ernst, Frau Simon. Taufen sind die schönsten Feiern, die es im Leben gibt. Außer Hochzeiten natürlich.«
Sebastian bewahrte Tessa davor, ausfallend zu werden, indem er das wertvolle Stück an die Verkäuferin zurückgab. »Es ist wirklich wunderschön«, sagte er. »Wenn wir uns für eine Taufe entscheiden, verspreche ich Ihnen, dass Victor nur dieses Kleid tragen wird.«
»Ich habe mir geschworen, nie wieder einen Fuß in eine katholische Kirche zu setzen. Und einen Katholiken aus ihm zu machen, ist das Letzte, was ich meinem Sohn antun werde«, legte Tessa los, sobald sie den Laden verlassen hatten. Das Licht auf der Straße war so gleißend, dass sie sofort ihre Sonnenbrille aufsetzen musste.
»Wer sagt denn, dass wir ihn katholisch taufen?«
»Die Protestanten sind um kein Haar besser.«
Aus dem Augenwinkel bemerkte Tessa, wie Leute stehen blieben und tuschelten.
»Können wir die Diskussion vielleicht anderswo weiterführen?«, zischte sie Sebastian zu, der den Kinderwagen schob. »Ich hab keine Lust, dass das alles morgen in der Zeitung steht.«
»Das ist ja was ganz Neues.«
»Bitte?«
»Entschuldigung. Das war dumm.«
Schweigend klappte er den Kinderwagen zusammen, sie legte Victor in die Auto-Babyschale und schnallte diese auf dem Rücksitz ihres Mercedes fest.
»Betrachte es doch einfach als großes Fest«, sagte Sebastian, als Tessa an der ersten roten Ampel hielt. »Es gibt so viele Leute, die Victor endlich einmal sehen wollen. Da ist es doch einfacher, wenn wir ein großes Fest machen, wo alle auf einmal kommen.«
»Du meinst nicht: Leute. Und du meinst nicht: alle. Du meinst: Familie.«
»Natürlich auch unsere Familien. Was ist so schlimm daran?«
Schweigend gab Tessa Gas. Sie hätte jetzt gern das Verdeck geöffnet, aber Victor würde hinten einen Zug bekommen. Vorsichtig drehte sie die Klimaanlage zwei Grad kühler.
Noch am Tag der Geburt hatten sie den ersten Streit gehabt. Sebastian hatte ein Polaroidfoto von Victor per Kurier an seine Eltern geschickt und hatte Tessa überredet, dass auch sie ihren Eltern sofort ein Foto schicken müsse. Sie hatte sich zu schwach gefühlt, um richtig mit ihm zu streiten, also hatte sie zugelassen, dass er ein zweites Bild von Victor auf der Rückseite beschrieb:
Liebe Karin, lieber Volker. Heute um zehn Uhr zwanzig wurde Victor Liam geboren. 49 cm, 3,9 kg. Wir sind sehr glücklich. Tessa und Sebastian
. Und sie hatte zugelassen, dass er auch dieses Bild in einen Umschlag steckte und dem Kurier mitgab. Natürlich hatte ihre verdammte Stiefmutter noch am selben Abend auf ihre Mailbox
Weitere Kostenlose Bücher