Die Brut
es zum Lieblingssport der Boulevard-Magazine geworden, immer neue, knapp dreißigjährige Frauen aufzutun, die behaupteten, die leibliche Tochter der Kanzlerkandidatin zu sein. Gestern Abend hatte Tessa in der Sendung eines Kollegen einen Juristen gesehen, der erklärte, mit Gabriele Behrens damals ein
sexuelles Verhältnis
gehabt zu haben und somit möglicherweise der nichts ahnende, schändlich um die Tochter betrogene Vater zu sein. Dennoch blieb das Wort der Stunde
Mutterschaftstest
.
Tessa schaute Attila an. In seinen Augen lag das Leuchten, das sie gut genug kannte, und das ihr eigentlich schon vorhin, als sie den Konferenzraum betreten hatte, hätte verraten müssen, dass Attila eine Sensation im Ärmel hielt.
»Heute Morgen hat mich der persönliche Referent von der Behrens angerufen«, sagte er nach langer Pause extra beiläufig. »Sie will morgen in die Sendung kommen.«
Ihr Herzklopfen rührte nicht daher, dass sie aus der Übung war. Es kam von der Stimmung, die im Studio herrschte. Schon die Einfahrt zum Gelände war von einem Ring aus Journalisten, Kameraleuten und Photographen belagert gewesen, uniformierte Polizisten versuchten sie daran zu hindern, das Studiogelände zu betreten. Am Eingang zu Studio Sieben selbst hatten weitere Beamten in Uniform gestanden, der Sender hatte sich Gabriele Behrens gegenüber verpflichtet, dass sie das Studio unbehelligt betreten und wieder verlassen konnte.
Tessa betrachtete sich im Spiegel. Sie sah gut aus, obwohl sie in der letzten Nacht keine halbe Stunde geschlafen hatte. Um kurz nach zwei war sie aus der Redaktion nach Hause gekommen. Sie war gerade eingeschlafen, da hatte Victor zu weinen begonnen. Aber sie sah gut aus. Wiebke hatte einen großartigen Job gemacht. Sie musste nur darauf achten, das Kinn nicht zu tief zu senken, die leichte Neigung zum Hängekinn, die in den letzten Monaten der Schwangerschaft begonnen hatte, war noch nicht vollständig wieder verschwunden.
Tessa nippte ein letztes Mal an ihrem Kombucha, ging ein letztes Mal die Karteikarten durch. Heute würde sie diese wirklich brauchen. Gabriele Behrens war nur unter der Bedingung bereit gewesen, in die Sendung zu kommen, dass Tessa sich streng an die Fragen hielt, die sie gestern gemeinsam mit ihrem Wahlkampfmanager und den zwei weiteren Medienberatern, die gleich, nachdem der Skandal losgebrochen war, angeheuert worden waren, abgesprochen hatte.
Tessa rief noch einmal kurz zu Hause an, um sich von Sebastian ein letztes
toi toi toi
wünschen zu lassen und sich zu erkundigen, ob mit Victor alles in Ordnung war.
Ben klopfte und steckte seinen Kopf zur Tür herein.
»Alles klar? Noch fünf Minuten.«
Da war es wieder. Das sichere Gefühl, das einzig Richtige im Leben zu machen, der Rausch, der Triumph, alles stellte sich in der Sekunde ein, in der die große Digitaluhr auf
00.00.00
sprang und die Titelmelodie ertönte.
»Guten Abend. Herzlich willkommen.« Tessa verneigte sich. Ihre Stimme fühlte sich kräftig an. Warm. Sie würde sie sicher durch die Sendung tragen. »Heute Abend ist keine normale Sendung. Für mich nicht, weil es die erste Sendung nach der Geburt meines Sohnes ist.« Sie machte eine kleine Pause. Einige Leute applaudierten. Nicht genug. Es lag an der verdammten Anspannung, die auch das Publikum gepackt hatte. Unter normalen Umständen hätte es an dieser Stelle kräftigen Beifall geben müssen. Tessa lächelte in Richtung der Klatscher. In dem neuen Studio war das Publikumslicht so hell, dass sie die Leute sehen konnte.
»Für meinen heutigen Gast ist diese Sendung aber noch viel weniger ein normaler Auftritt«, machte sie weiter. »Sie alle verfolgen seit Tagen die Verdächtigungen, Gerüchte und Geschichten, die sich um Gabriele Behrens und ihre Vergangenheit ranken. Gabriele Behrens selbst hat bislang geschwiegen. Gestern nun erreichte uns ihr Anruf. Sie bat darum, in dieser Sendung Stellung beziehen zu dürfen. Wir haben beschlossen, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, und haben unser Programm kurzfristig geändert. Beate Schuster, die ursprünglich unser heutiger Gast sein sollte, hat sich bereit erklärt, ihren Besuch auf eine Sendung im November zu verschieben. Dafür danken wir ihr ganz herzlich und hoffen auch auf Ihr Verständnis.« Applaus. Zögerlich. Unsicher. Die Leute spürten, dass sie in einem Stück mitspielten, dessen Drehbuch sie nicht gut genug kannten. »Mein Gast auf der Couch heute Abend: Gabriele Behrens!« Tessa machte die gewohnte halbe
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