Die Brut
Drehung, und Gabriele Behrens kam durch den Auftrittsbogen.
»Ich bin sehr froh, dass ich heute Abend hier sein kann«, wandte diese sich ans Publikum, noch im Stehen. Es war vereinbart worden, dass Tessa die Politikerin nicht sofort zum Sofa führen und mit ihrem üblichen »Wie fühlen Sie sich heute?« beginnen, sondern der Politikerin die ersten Sätze überlassen würde.
»Viele von Ihnen fragen sich, warum ich so lange geschwiegen habe. Warum ich zu den Vorwürfen, die gegen mich erhoben wurden, bislang nicht Stellung bezogen habe. Die einzige Antwort, die ich Ihnen geben kann: Ich brauchte Zeit. Zeit, um mit mir und dem, was vor fast dreißig Jahren geschehen ist, ins Reine zu kommen. Und viele von Ihnen werden sich fragen, warum ich darum gebeten habe, das, was ich Ihnen mitteilen möchte, hier und heute Abend, in dieser Sendung mitteilen zu dürfen. Die Antwort ist: Ich glaube, dass Sie einen Anspruch auf Wahrheit haben. Und ich bin sicher, dass ich der Wahrheit mehr diene, wenn ich mich von Tessa Simon befragen lasse, als wenn ich eine vorbereitete Erklärung verlese.«
Tessa nickte an dieser Stelle in Richtung Publikum, sie hoffte, dass es das Signal zum Applaus begreifen würde. Sie bewunderte das Gedächtnis der Politikerin. Es war fast wörtlich der Text, den sie vorhin in ihre Garderobe hereingereicht bekommen hatte.
Tessa begleitete Gabriele Behrens zur Couch und setzte sich selbst auf den Stuhl am Kopfende. Mit den Krisenmanagern war abgesprochen worden, dass sie die Couchsituation in der heutigen Sendung großzügig behandeln würden. Eine steilere Rückenlehne. Kein Alarm, wenn Gabriele Behrens sich aufsetzte oder ins Publikum schaute.
»Sie haben es selbst gesagt, es war kein leichter Gang für Sie, heute Abend hierher zu kommen«, fing Tessa an. »Können Sie beschreiben, was Sie dazu bewegt hat, es dennoch zu tun?«
»Als ich mich entschieden habe, in die Politik zu gehen, habe ich mich entschieden, in die Öffentlichkeit zu gehen. Deshalb muss ich mir gefallen lassen, dass man mir härtere Fragen stellt als anderen Menschen, die weniger exponierten Berufen nachgehen. Ich glaube daran, und es ist meine tiefe demokratische Überzeugung, dass die Wahrheit immer im Gespräch, im Miteinander-Reden liegt und nicht im Monolog.«
»Können Sie uns sagen, was Ihnen in der letzten Nacht durch den Kopf gegangen ist?«
»Bedauern. Tiefes, tiefes Bedauern.«
Im Publikum gab es ein leises Raunen.
»Wollen Sie uns genauer sagen, was Sie bedauern?«
»Ich habe einen Fehler gemacht. Damals. Ich habe noch studiert, ich stand kurz vor dem ersten Staatsexamen, ich wusste, dass ich es nicht schaffen werde, das alles zu meistern und ein Kind verantwortungsvoll großzuziehen.« Die Politikerin machte eine Pause. »Deshalb habe ich mich dafür entschieden, meine Tochter nach der Geburt in eine Familie zu geben, die sich besser um sie kümmern würde, als ich es hätte tun können.«
Wieder gab es ein Raunen.
»Über die Möglichkeit, Ihr Studium zu unterbrechen und erst einmal für das Kind da zu sein, haben Sie nie nachgedacht?«
»Liebe Frau Simon, selbstverständlich habe ich das. Glauben Sie vielleicht, dass mir diese Entscheidung leicht gefallen ist?« Zum ersten Mal war echtes Leben in die Stimme der Politikerin gekommen. Tessa hatte sich erlaubt, die Frage von der Karte leicht umzuformulieren, indem sie Gabriele Behrens nicht danach fragte,
ob
sie über diese Möglichkeit nachgedacht hatte, sondern ihr gleich unterstellte,
nicht
über diese Möglichkeit nachgedacht zu haben. Im Geist ballte Tessa die Faust. Da war sie wieder.
Die Meisterin der unterirdischen Steuerung
.
»In den letzten Tagen sind zahlreiche junge Frauen aufgetaucht, die alle behaupten, Ihre leibliche Tochter zu sein«, machte sie weiter. »Möchten Sie das Geheimnis heute Abend lüften und uns verraten, ob eine von ihnen es tatsächlich ist?«
»Schauen Sie, ich habe meine Tochter vor fast dreißig Jahren zum letzten Mal gesehen. Ich möchte ihren Namen jetzt nicht auf diese Weise in die Öffentlichkeit werfen. Ich weiß, wer sie ist und wo sie lebt, und ich habe ihr mitgeteilt, dass ich sie treffen möchte. Vorausgesetzt natürlich, dass sie das ebenfalls will. Bevor es dieses Treffen gegeben hat, werde ich in der Öffentlichkeit weder etwas über die Identität meiner Tochter noch über die ihrer Zieheltern sagen.«
»Das ist nur allzu verständlich.«
Das Publikum begriff die Aufforderung zum Applaus.
»Haben Sie Angst
Weitere Kostenlose Bücher