Die Brut
vor der Begegnung mit Ihrer Tochter?«
»Ja. Selbstverständlich. Ich wäre aus Stein, wenn ich keine Angst hätte.«
»Was bedauern Sie am meisten, wenn Sie über das verpasste Leben mit einer Tochter nachdenken?«
»Die Einsamkeit. Ich bin mit einem wunderbaren Mann verheiratet, der immer für mich da ist, und das schon seit vielen Jahren. Aber ich mache mir da keine Illusionen: Nichts kann die Nähe ersetzen, die es zwischen Mutter und Tochter gibt.«
Tessa wusste, dass die nächste Frage vom Wahrheitspfad, auf dem sie sich befand, wegführte, aber sie war von Gabriele Behrens’ Beratern gezwungen worden, sie hier zu stellen.
»In der Öffentlichkeit wurde in den letzten Tagen viel darüber spekuliert, dass ausgerechnet Sie – die sich politisch so sehr für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie einsetzen – an dieser Aufgabe gescheitert sind. Glauben Sie, dass Ihr heutiges politisches Engagement von dieser Erfahrung des eigenen Scheiterns herrührt?«
»In jedem Fall. Ich liebe Kinder, ich finde Kinder etwas Wunderbares, und ich möchte jeder Frau, die Kinder will, ermöglichen, dass sie sich diesen Traum erfüllen kann, ohne dafür auf ihr Berufsleben verzichten zu müssen. Sehen Sie, damals war die Lage, was Kindertagesstätten, Kinderganztagsbetreuung für Kleinkinder anbelangt, ja noch viel schlechter als heute. Und heute ist sie schon schlecht genug. In den frühen Siebzigern hätte eine Frau, die ihre juristische Ausbildung erfolgreich beenden wollte, und die keine Eltern oder andere Verwandte hatte, die sie bei der Betreuung unterstützt hätten – so eine Frau hätte kein Kind verantwortungsvoll großziehen können.«
»Das ist doch gelogen!«
Tessas Blick schnellte in die Höhe. Auch die Politikerin hatte sich weiter aufgesetzt, um zu sehen, woher der Zwischenruf gekommen war. Die Frau saß in der fünften Reihe. Sie mochte Ende vierzig sein, ihre langen glatten Haare waren schwarz gefärbt, ihre Augen brannten. Tessa war sicher, sie noch nie gesehen zu haben. Erst einmal hatte sie in all den Jahren einen Zwischenrufer in ihrer Sendung gehabt. Der Sicherheitsdienst hatte ihn schnell entfernt. Sie lehnte sich wieder zurück.
Störer beim ersten Mal einfach ignorieren
, rief sie sich aus dem Überlebenshandbuch für Fernsehmoderatoren ins Gedächtnis.
»Ich würde gern wieder zurück zu Ihnen persönlich kommen«, sagte sie ruhig. »Wie schwer ist Ihnen die Entscheidung gegen das Kind damals gefallen? Das muss doch ein furchtbarer Kampf gewesen sein.«
»Das war es.« Auch die Politikerin hatte sich ein wenig zurückgelehnt. »Im ersten Augenblick war ich so glücklich, als ich gemerkt habe, dass ich schwanger bin. Am liebsten wäre ich gleich losgelaufen, um Kleidchen und Strampelanzüge zu kaufen. Aber dann wurde mir klar, dass es unverantwortlich wäre.«
»Ich habe drei Kinder großgezogen.« Die Frau mit den schwarzen Haaren war aufgesprungen und schlug sich in der Art arabischer Klageweiber mit beiden Händen gegen das Brustbein. »Drei Kinder habe ich großgezogen, und ich habe studiert, und jedes einzelne habe ich vom ersten Tag an geliebt.«
Tessa warf der Aufnahmeleiterin einen fragenden Blick zu. Die machte mit beiden Händen ein Zeichen aus dem Register
ruhig Blut
. Noch immer war kein Sicherheitsdienst zu sehen. Gabriele Behrens hatte sich vollständig aufgerichtet und schaute der Zwischenruferin direkt in die Augen.
»Ich begreife Ihre Aufregung. Und ich bewundere das Engagement, mit dem Sie sich offensichtlich um Ihre Kinder und Ihren Beruf kümmern.«
Die Frau war nicht gewillt, sich mundtot loben zu lassen. »Das ist doch alles Heuchelei, was Sie hier erzählen. Heuchelei. Kinder muss man lieben. Mit dem Herzen lieben.« Wieder schlug sie sich gegen die Brust. »Hier. Eher hätte ich mein Herz hergegeben als eines meiner Kinder.«
Schnell, bevor Gabriele Behrens etwas erwidern konnte, beugte Tessa sich vor. »Das ist alles sehr interessant, und ich danke Ihnen für Ihre Sicht der Dinge, aber es wäre schön, wenn Sie mich jetzt wieder das Gespräch führen ließen.«
Es gab Lacher. An der hinteren rechten Studiotür entdeckte Tessa endlich den ersten Sicherheitsmann. Er schob sich durch die Reihe, in der die Frau saß.
»Kinder muss man lieben! Mit dem Herzen lieben!«
Der Sicherheitsmann fasste sie am Oberarm und sagte etwas zu ihr, das in dem Geschrei unterging. Widerwillig ließ sich die Frau in die Höhe ziehen.
»Frau Simon, Sie sind doch auch Mutter! Sie
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