Die Buchmalerin
lagen. Sie konnte gut genug lesen und schreiben, dass es ausreichte, die Bücher zu führen. Um am Unterricht teilnehmen zu können, den der Kaplan der Georgspfarrei abgehalten hatte – in diesem Viertel war sie aufgewachsen –, hatte sie sich zu Hause wegschleichen müssen. Luitgards Sippe, die wohlhabende Weberfamilie Herkenrath, hatte dagegen Wert darauf gelegt, dass die Tochter lesen und schreiben lernte. Nach dem Tod der Mutter war Luitgard sogar von den Benediktinerinnen erzogen worden. Luitgard war längst nicht so hübsch gewesen wie sie selbst. Aber als Tochter aus einer wohlhabenden, angesehenen Familie hatte sie keine Mühe gehabt, einen Mann zu finden. Luitgard hatte auch nicht jahrelang eine Schwiegermutter erdulden müssen, die ihr bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, dass ihr Sohn unter seinem Stand geheiratet hatte. Und jetzt nahmen ihr Luitgard und die anderen Frauen in der Stolkgasse Aufträge weg und schmälerten ihren, Ida Sterzins, Gewinn. Bei Gott, wie sie die Beginen samt ihrer Vorsteherin hasste!
Eine Weile brütete Ida Sterzin vor sich hin, fand jedoch keinen Ausweg. Karl Herkenrath, Luitgards Onkel, hatte erst vor kurzem die Wahl ihres Mannes zum zweiten Vorsteher der Deckenweberzunft hintertrieben. Gegen die Herkenraths und die anderen wohlhabenden, alten Familien kam sie nicht an. Die Familien des Stadtpatriziats, die die Richerzeche und das Schöffenkollegium bildeten, lagen zwar mit den Sippen des Rates, denen auch Karl Herkenrath angehörte, im Streit. Aber bei den vornehmen Familien der Richerzeche oder des Schöffenkollegiums würde sie, die Tochter eines Leinenwebers und Frau eines Deckenwebers ohne Einfluss, nichts bewirken.
Ida Sterzin erhob sich und wollte in ihre eigene Werkstatt zurückkehren, die in einem kleinen, einzelstehenden Haus im Hof gelegen war, als sie draußen die laute Stimme von Jörg, ihrem einzigen Sohn und Ältesten, hörte. Einige Augenblicke später wurde die Tür der Kammer aufgestoßen und Jörg stürmte herein. Ein junger Mann begleitete ihn, den die Mutter nicht kannte und auch nicht weiter beachtete. Jörgs ansprechendes Gesicht unter dem lockigen braunen Haar, das bis auf die großen ebenfalls braunen Augen und den weichen Mund – beides hatte er von seinem Vater – dem ihren ähnelte, war gerötet. Sein Atem stank nach Bier.
»Mutter, stell dir vor, ich habe diesen Schreiber auf dem Markt getroffen.« Jörg deutete auf den jungen Mann, der neben ihn getreten war. Flüchtig registrierte Ida Sterzin, dass der Schreiber rotes Haar, flinke Augen und ein hübsches füchsisches Gesicht hatte. »Er wird mir den Brief, den ich für meine Lehrzeit in Lübeck brauche und der bezeugt, dass ich ehrlicher Leute Kind und ehelich geboren bin, zu einem guten Preis schreiben. Viel billiger als der Amtsschreiber der Stadt.«
»Ein Brief für deine Lehrzeit in Lübeck? Ist das deine einzige Sorge?« Ida Sterzins Zorn entlud sich über ihren Sohn. »Die Beginen nehmen uns die Aufträge weg. Mich demütigen sie. Und du treibst dich auf dem Markt herum und gehst in die Braustube, statt mir beizustehen.«
Jörgs Gesicht verschloss sich wie immer, wenn seine Mutter ihm Vorwürfe machte – was häufig der Fall war. Mit herabgezogenen Mundwinkeln erwiderte er: »Mutter, es ist Vaters Angelegenheit, wegen der Preise der Beginen mit den Zunftvorstehern und den anderen Handwerkerfamilien zu sprechen.«
»Du bist der älteste Sohn. Du musst dich, wenn dein Vater auf Reisen ist, allmählich in deine Stellung finden …« Dies war auch eine Sache, die Ida Sterzin umtrieb. Handel bedeutete Gewinn. Aber natürlich ließen die reichen Kaufleutesippen der Stadt, die Handel bis nach England und weit in den Norden hinauf trieben, einen wie Conrad Sterzin nicht an ihren Fahrten teilnehmen. Den Herkenraths dagegen hatten sie das schon gestattet. Deshalb hatte die Seidenstickerin ihren Mann gedrängt, auf eigene Faust in den Norden des Reichs zu reisen. Erst vor knapp zwei Wochen war er, zusammen mit einigen Knechten, dorthin aufgebrochen.
Der Schreiber trat vor und bedachte Ida Sterzin mit einem Lächeln. »Ihr habt Ärger mit den Beginen?«
»Ja«, entgegnete sie knapp. »Aber was geht das Euch an?«
»Aus manchen Städten wurden die Beginen vertrieben«, sagte der Schreiber nachdenklich.
»Tatsächlich?«, höhnte Ida Sterzin. Dennoch betrachtete sie den Rothaarigen nun genauer. Sein Lächeln erschien ihr spöttisch und ein wenig verschlagen. Es machte ihr klar, wie viel
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