Die Buchmalerin
zu der jenseitigen Gasse führen würde. Plötzlich nahm er über dem Rand eines Zaunes eine Bewegung wahr. Da er gegen die Sonne blickte, konnte er im ersten Moment nur einen großen Schatten erkennen, blieb jedoch instinktiv stehen. Erst als der Schatten auf dem Boden des Pfades gelandet war, begriff er, dass er den Diener des Kardinals vor sich hatte.
Der Diener beachtete ihn nicht, sondern schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Roger folgte ihm. Nach wenigen Schritten jedoch eröffnete sich seitlich, in Richtung der Gasse, ein schmaler Weg. Sollte er Léon nachspüren? Ohne lange zu überlegen, entschied er sich dagegen.
Als Roger das Ende des Pfades erreichte, verstopfte eine dicht gedrängte Menschenmenge den Durchgang. Das Schreien war nun nicht mehr nur ein einziges zorniges, an- und abschwellendes Geräusch, stattdessen konnte er Rufe und Gegenrufe unterscheiden. Er packte zwei Männer an den Schultern, schob sie grob auseinander und drückte sich zwischen den Menschen hindurch, wobei er um sich schlug und trat, um vorwärts zu kommen. Unversehens hatte er den Rand der dicht an dicht stehenden Menge erreicht. Ein Mann stieß Roger an die Brust. Er sah das Aufleuchten von Metall in der Sonne und rammte dem Angreifer den Ellbogen in den Unterleib. Während der Mann ihn stöhnend losließ, bemerkte Roger auf der anderen Seite der Gasse einen hohen Treppenaufgang. Noch einmal kämpfte er sich zwischen Leibern hindurch. Sobald er seitlich unter der Treppe stand, griff er nach einem Sparren des Geländers und zog sich hinauf.
Als er die oberste Stufe erreicht hatte, konnte er die Gasse überblicken und glaubte, in das Innere eines brodelnden Kessels hinabzuschauen. Unter ihm drängten sich Menschen, die einander mit Waffen bedrohten und hin und her stießen. Zwei rivalisierende Gruppen, von denen die eine sich auf der Gasse verteilte. Die andere hatte Aufstellung vor einem zweistöckigen Haus bezogen, dessen Läden teilweise zertrümmert waren. Schwärzliche Stellen im Dachstroh zeugten davon, dass brennende Gegenstände auf das Haus geworfen worden waren. Hätte nicht Schnee das Dach bedeckt, wäre das Haus wohl schon längst in Brand geraten. Den Rand des Kessels bildete ein Wall von Gaffern, die sich an die Hauswände pressten. Ihre Mienen verrieten Zorn, Sorge oder gespannte Erwartung angesichts des Schauspiels, das sich ihnen bot und das noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht hatte.
Während Roger seinen Blick weiter angespannt über die Menge schweifen ließ, bemerkte er auf der anderen Seite der Gasse eine Frau, welche die Tracht der Benediktinerinnen trug. Sie stand ein wenig erhöht – vielleicht auf einer Treppe wie er oder auf einem Mauervorsprung. Ihre Körperhaltung war starr. Die Kapuze ihres Mantels hing ihr tief ins Gesicht. Unwillkürlich fragte er sich, was eine Benediktinerin hierher geführt haben mochte.
Doch im nächsten Moment erregte ein Ruck, der durch die beiden Gruppen ging, seine Aufmerksamkeit. Diejenige, die das Haus verteidigte, war einige Schritte vorgedrungen und bedrängte nun die Angreifer. Einige der Männer hieben mit Sensen und Dreschflegeln aufeinander ein, andere begnügten sich damit, sich an den Kleidern zu packen und miteinander zu raufen.
In der Lücke, die durch das Vorrücken der Verteidiger entstanden war, sah Roger nun, dicht vor der Hauswand, eine ganze Ansammlung von Benediktinerinnen. Die Nonnen hatten ihre Arme ineinander verhakt und bildeten so eine Wand aus Leibern. In ihrer Mitte befand sich die Äbtissin, die schon am Abend zuvor beim Mahl im erzbischöflichen Palast die Beginen in Schutz genommen hatte. Der Kopf der alten Frau war hoch erhoben. Mit seinen scharf geschnittenen Gesichtszügen glich er einem zornigen Adler. Wieder wurde ein brennender Gegenstand gegen das Haus geworfen. Er fiel durch eine der Fensteröffnungen.
Gleichzeitig wurde von der Seite der Gasse her, die in Richtung des Doms gelegen war, Schreien laut. Soldaten zu Fuß sowie Reiter kämpften sich durch die Menge. Menschen schoben sich vorwärts oder versuchten, zur Seite auszuweichen. Die Bewegung erfasste auch die beiden kämpfenden Gruppen in der Mitte der Gasse. Die Lücke vor dem Beginenhaus schloss sich und die Benediktinerinnen verschwanden wieder hinter einem Knäuel aus Leibern.
Die ersten Fußsoldaten waren nun auf der Höhe des Hauses angelangt. Im Bemühen, den Soldaten aus dem Weg zu kommen, drängten weitere Menschen die Treppe hinauf, auf der Roger stand,
Weitere Kostenlose Bücher