Die Buchmalerin
auf die Stirn und starrte in das kalte, graue Licht, das durch die Ritzen fiel und ein Widerschein des Schnees war. Sie musste diese Gegend verlassen, die ihr bisher so viel Unglück gebracht hatte.
Als sie vorhin die verfallene Hütte oben am Hang entdeckt hatte, hatte die gelbliche Sonne dicht über dem Horizont gestanden. Nach ihrer Flucht aus der Stadt war sie nach Westen gelaufen. Wirre Gedankenfetzen zogen durch ihren Kopf. Im Westen lag das Kloster, aus dem sie geflohen war, und der Meeresarm zwischen dem Festland und England, jenem Land, das die Ketzer nicht streng verfolgte und in das sich die beiden Albigenser hatten retten wollen … Jener Mann und jene Frau aus dem Languedoc, ihrer Heimat, die sie an die Inquisition verraten hatte …
Und wenn sie es doch wagte, einen der Häfen aufzusuchen und nach einem Boot zu forschen, das über den Kanal fuhr? Auch wenn die Schiffer streng angehalten waren, jeden, welcher der Ketzerei verdächtig schien, an die Inquisition zu melden? Unwillkürlich bewegte sie sich und ein so stechender Schmerz fuhr durch ihr Bein, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Auch wenn sie es versuchen wollte – sie würde nicht dorthin kommen. Nicht mit dem wenigen Geld, das sie besaß, nicht bei dieser Kälte und mit ihrem lahmen Bein … Bilhildis hatte Recht, dachte sie. In diesem Winter gelingt es mir nicht mehr, im Freien zu überleben …
Bilhildis hatte gesagt, sie sei nicht verdammt … Aber Donata fürchtete sich vor dem Tod und vor der Hölle und vor den Qualen, die ihr bevorstanden, falls sie dem Kardinal und dessen Leuten in die Hände geriet …
Das Licht, das durch die Ritzen fiel, wurde dunkelgrau, dann schwarz. In der Ferne hörte sie Wölfe heulen. Der Wind wehte so, dass die wilden Tiere ihre Witterung nicht aufnehmen konnten. Dennoch fasste sie nach ihrem Messer.
Vor Erschöpfung schlief sie schließlich ein. Sie befand sich in einem Skriptorium. Vor ihr, auf einem Schreibpult, lag ein Wachstäfelchen und sie sollte das, was auf ihm geschrieben stand, auf ein Pergament übertragen. Sie tauchte einen Gänsekiel in schwarze Tinte. Doch als sie ihn ansetzte und die Worte Im Namen Christi, unseres Herrn schreiben wollte, gehorchte ihr die Hand nicht und ein schwarzer Strich zog sich über das Pergament. Sie hörte die Äbtissin sagen: »Dies ist kein heiliger Text.« Das Wachstäfelchen glitt vom Pult und fiel zu Boden …
Das Skriptorium verschwand. Sie rannte durch eine düstere, kahle Landschaft. Sie musste das Wachstäfelchen finden. Hinter ihr erklang das Geheul des fahlhäutigen Dämons. Sie hörte seine Schwingen durch die Luft pfeifen und roch seine faulige Ausdünstung. Er war direkt über ihr, ein riesiger Schatten vor dem Graubraun der tief fliegenden Wolken.
Donata erwachte ein weiteres Mal von ihrem eigenen Schreien. Sie benötigte einige Augenblicke, ehe sie wirklich zu sich kam und begriff, wo sie sich befand. Steif vor Kälte richtete sie sich auf und schlang die Arme um ihren Körper. Das Wachstäfelchen … Noch immer hatte sie die Empfindung, dass es wichtig für sie war, es zu finden … Sie raffte einen Arm voll Heu zusammen und wollte sich auf die andere Seite der Hütte schieben, dorthin, wo die Bretter dichter standen und ein wenig mehr Schutz vor dem schneidenden Wind boten.
Unvermittelt fiel es ihr wieder ein. Das von Sonne erhellte Zimmer der Äbtissin. Die trockene, ein wenig spröde Stimme der alten Frau … Noch nicht einmal ein Tag war seither vergangen. Im Namen Christi, unseres Herrn. Ich, Adelheid, Äbtissin des Klosters Maria im Kapitol und der zu dem Kloster gehörenden Güter und Liegenschaften, beauftrage Euch, Wilbert, Verwalter des Klostergutes in der Gegend von Nideggen, nahe dem Nettelbach, damit …
Donata erinnerte sich daran, was ihr, während sie die Worte in das Wachs geritzt hatte, durch den Kopf gegangen war: Das Gut liegt nicht sehr weit von Köln entfernt. Vielleicht drei, vier Tagesmärsche weit im Westen … Einen halben Tag lang war sie bereits in diese Richtung gelaufen … Das Gut war bei einem Brand schwer beschädigt worden, hatte die Äbtissin gesagt. Schwer beschädigt bedeutete nicht, bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Es musste unzerstörte Winkel geben. Vielleicht Reste von Heu oder von Getreide …
Drei oder vier Tagesmärsche … Donata beugte sich vor und betastete ihren schmerzenden Fuß. Wenn sie den Verband fest anzog … Irgendwo draußen würde sich ein Ast finden lassen, auf den sie
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