Die Buchmalerin
entdeckt hatte.
Er berichtete der Äbtissin, was er vermutete: dass Enzio sein eigenes Spiel auf Kosten des Papstes trieb. Dass er Gisbert ermordet hatte, weil ihm dieser als ergebener, aufrechter Diener Gregors hätte hinderlich werden können und vielleicht auch weil er dem König einen Dienst erweisen wollte. Denn der König missbilligte das Tun des Inquisitors, hatte sich aber nicht gegen ihn durchsetzen können. »Die Frau, die ich im Mantel Eures Ordens vor dem Haus in der Stolkgasse gesehen habe, ist, wie ich glaube, eine Zeugin des Mordes. Deshalb sucht Enzio nach ihr …« Roger brach ab. Er fühlte sich ausgelaugt, nicht nur körperlich erschöpft, sondern so, als hätte er sein Innerstes nach außen gekehrt und als sei ihm nichts mehr geblieben, was er verbergen könnte.
»Nun wisst Ihr, warum ich die Frau finden muss«, fuhr er grimmig fort. »Wenn Ihr ein Priester wärt, hätte ich Euch dies als Beichte anvertrauen können. Und bei Eurem Seelenheil wärt Ihr verpflichtet gewesen, darüber Stillschweigen zu bewahren …«
Die Augen der Äbtissin funkelten. »Oh, ich werde nichts weitererzählen …« Sie betrachtete ihn noch einmal eingehend. Licht und Schatten irrlichterten auf ihrem Gesicht. Schließlich meinte sie: »Euer Herr, sagt man, behält sich gewisse Freiheiten im Denken und Glauben vor – auch wenn er sie anderen nicht zugestehen will. Es geht das Gerücht, dass er nicht an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele glaubt. Wie steht es mit Euch? Glaubt Ihr daran?«
»Was habt Ihr gefragt?«, er starrte sie verblüfft an.
»Ihr, Kundschafter Friedrichs, habt mich schon verstanden«, erwiderte sie trocken.
»Ich werde mit Euch keinen Disput über die Unsterblichkeit der Seele führen …«
»Entweder Ihr gebt mir eine Antwort oder Ihr geht. Vergesst nicht, ich habe das bessere Blatt.« Ihre Miene war ungerührt. Sie besaß einen hohen Adelsrang und war eine Frau, aber er wünschte sich, ihr in das alte, spöttische Raubvogelgesicht schlagen zu können.
»Nun …?«
Glaubte er an die Unsterblichkeit der Seele? Müde erinnerte er sich an einen Schädel, den er geöffnet hatte. In einer fingernagelgroßen Drüse, dort, wo das Rückenmark auf das Hirn traf, befand sich, laut den alten griechischen Ärzten, der Sitz der Seele. Er hatte die Drüse aufgeschnitten. Angesichts dessen, was er vor sich sah, eine gallertartige, farblose Masse, hatte er den alten Ärzten nicht glauben können. Oder die unsterbliche menschliche Seele war nicht so ein wunderbares Gebilde, wie die Kirche behauptete …
Ein anderes Bild tauchte aus seinem Gedächtnis auf. Das eines Vogels, der sich von seiner Hand aufschwang und in die Luft emporstieß, und der Moment, als die Sonne den Leib des Vogels traf und silbrig aufstrahlen ließ. Eine schwerelose Freude hatte Roger erfüllt, so als sei es einem Teil von ihm gelungen, sich mit dem Vogel in die Luft zu erheben.
Er konnte sich selbst nicht erklären, warum. Aber diese Erinnerung gab den Ausschlag und er erwiderte: »Ja, ich glaube an die Unsterblichkeit der Seele.«
»Dann schwört mir bei der Unsterblichkeit Eurer Seele, dass Ihr mir die Wahrheit gesagt habt.«
Roger kam sich albern vor, aber er folgte ihrer Aufforderung. Während er die Worte nachsprach, gewannen sie für ihn Bedeutung.
»Nachdem ich Euch nun auch noch die Unsterblichkeit meiner Seele preisgegeben habe, wäre es an der Zeit, dass Ihr mir sagt, was Ihr wisst.« Er bewegte seinen schmerzenden Rücken und sah sie in einer Mischung aus Zorn und Resignation an.
»Wenn ich aus all dem, was Ihr mir erzählt habt, die richtigen Schlüsse ziehe«, antwortete sie langsam, »dann glaube ich, dass die Frau, die Ihr sucht, bei den Beginen in der Stolkgasse Unterschlupf gefunden hatte.«
»Deshalb also«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Ich konnte mir nicht erklären, warum sich Enzio plötzlich in der Rolle des Inquisitors gefällt …«
»Das muss der Grund sein«, versetzte die Äbtissin bitter.
Er besann sich. »Woher wisst Ihr, dass die Frau bei den Beginen unterkam, und warum trug sie einen Mantel Eures Ordens?«
»Weil Luitgard, die Vorsteherin der Beginen, mich bat, sie vor der Inquisition zu schützen.«
»Ist sie noch hier?« Er ahnte die Antwort.
Sie schüttelte den Kopf. Ein grimmiges Lächeln zuckte um ihren Mund. »Seit dem Mittag ist sie verschwunden. Seit meine Schreiberin – die Nonne, die Euch hierher geführt hat – in diesen Raum kam und rief, dass der Pöbel die Beginen
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