Die Buchmalerin
sich stützen konnte. Drei oder vier Tagesmärsche, dann hatte sie vielleicht einen Ort gefunden, wo sie sich bis zum Ende der strengen Kälte verbergen konnte – sie musste es wagen!
*
Roger stieg die letzten Stufen zu dem hohen Kirchenportal hinauf. Als er es fast erreicht hatte, verharrte er einen Moment verwundert. Reihen von Figuren überzogen die Türflügel. In dem blassen Licht, das der Schnee und der halbe Mond am Himmel verbreiteten, schienen sie sich zu bewegen, eine lange Prozession, die irgendwohin unterwegs war. Eine Frau, die auf einem Esel saß, Männer beim Mahl … Sein Blick blieb auf einer anderen Szene hängen. Ein Soldat, der ein Schwert in einen Säugling stieß … Roger schüttelte die Müdigkeit ab, die ihn umfing, und erinnerte sich. Das Eingangsportal von Maria im Kapitol mit seinen geschnitzten Figuren war berühmt.
Nachdem er die Kirche betreten hatte, blieb er im Schatten neben dem Portal stehen. In der Apsis flackerte eine Öllampe. Er lauschte, während seine Augen versuchten, sich auf das unruhige Licht einzustellen. Schließlich entspannte er sich. Das Kirchenschiff schien menschenleer zu sein und auch hinter den Säulen bewegte sich nichts. Enzio hatte zwei Soldaten zu der Gasse geschickt, in der die Pforte des Klosters lag, es aber nicht für nötig erachtet, auch die Kirche bewachen zu lassen.
Rasch ging Roger zur schmiedeeisernen Chorschranke und öffnete die Tür darin. Noch einmal schaute er in das lang gezogene Kirchenschiff zurück. Nein, keine Bewegung war wahrzunehmen, keine raschen, gedämpften Schritte ertönten auf dem steinernen Boden. Nur das Licht der Öllampe zuckte über die Gemälde an den Wänden, ließ da und dort den Teil eines Gewandes oder eines Gesichtes farbig aufleuchten. Und auch in der Apsis, die ein Kreis aus schlanken, runden Säulen umschloss, blieb alles ruhig.
Nachdem Roger eine Tür an der rechten Seite des Altarraums aufgezogen hatte, tastete er sich durch ein dunkles Gemach, in dem der Geruch von verbranntem Wachs und Weihrauch hing wie ein schweres Tuch. Durch eine weitere Tür gelangte er in eine Halle, die wiederum von einer Öllampe erleuchtet wurde. Während er noch aus müden Augen gegen das Licht anblinzelte, hörte er hinter sich eine Frau gedämpft aufschreien. Er wandte sich um. Eine Benediktinerin, die ein längliches, blasses Gesicht hatte, starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
»Was tut Ihr hier? Warum habt Ihr nicht an der Pforte geklopft?«
»Ich habe Eurer Äbtissin eine Nachricht zu überbringen.«
»Jetzt? In der Nacht?«
»Es ist wichtig«, entgegnete er ruhig.
Sie musterte ihn unwillig. Verwundert dachte er, dass sie ein eigentümliches Gesicht hatte, mit Wimpern und Augenbrauen, die so hell waren, dass sie fast nicht auf der Haut zu erkennen waren.
»Wartet«, sagte sie knapp. Während sie die Halle mit raschen, ärgerlichen Schritten durchquerte, ging er zu einer steinernen Sitzbank, die in eine der Mauern eingelassen war. Er ließ sich darauf fallen, lehnte seinen Rücken gegen die Wand. Schläfrigkeit überfiel ihn. Er kämpfte dagegen an, glaubte, er sei wach geblieben, und schreckte doch verwirrt auf, als er plötzlich die ein wenig metallene Stimme der Nonne sagen hörte, er solle mitkommen.
Er folgte ihr durch die Halle, eine breite Treppe hinauf und durch einen Arkadengang, wo ihn die eisige Nachtluft wie ein Schlag ins Gesicht traf. Benommen trat er ins Zimmer der Äbtissin. Sie saß hinter einem wuchtigen, dunklen Tisch, auf dem eine Kerze in einem Bronzeleuchter brannte. Die alte Frau erschien ihm kleiner als in der Nacht zuvor, als er sie beim Festmahl im Palast des Erzbischofs gesehen hatte. Wieder fiel ihm auf, dass ihre Hände, die vor ihr auf dem Tisch ruhten, von der Gicht verkrümmt waren. Aber sie saß sehr aufrecht und der Blick, mit dem sie ihn bedachte, war durchdringend.
»Ihr könnt gehen«, befahl sie der Nonne. Sie neigte den Kopf, als lauschte sie den Schritten nach, die allmählich auf dem Gang verklangen. Schließlich wandte sie sich an Roger. »Nun, welche Nachricht habt Ihr für mich?«
»Keine Nachricht, eher ein Angebot …« Er schaute ihr in die Augen, die im Schein der Kerze fast schwarz und unergründlich wirkten. Plötzlich verschwamm das gelbliche Licht um ihn herum. Er schwankte.
»Kommt schon, nehmt Euch einen Schemel und setzt Euch. Wenn Ihr zu Boden stürzt und die Besinnung verliert, benötigt diese Angelegenheit noch mehr Zeit, als mir lieb ist.«
Er
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