Die Bucht des grünen Mondes
etwas auf sich hielt, hatte er das Reserveoffizierspatent erworben. Die Patronen in die Trommel zu füllen, stellte keine große Herausforderung dar. Dann musste man nur noch den Hahn spannen … Ihre Hand zitterte, als sie sich probehalber den Lauf an die Schläfe setzte.
Noch nicht. Nicht hier
.
Sie stopfte alles in ihr Spitzenhandtäschchen und hängte es sich an den Arm. Dann nahm sie den Geigenkasten und öffnete die Tür. Alles war still. Auf bloßen Zehenspitzen schlich sie den Gang entlang, die Wendeltreppe hinunter. Sogar jetzt war es möglich, dass Herr Oliveira auftauchte – er würde sich sehr wundern, dass sie des Nachts und mit nichts als ihrem Nachthemd bekleidet hinauswollte. Der Salon lag verlassen. Eine einsame Petroleumlampe neben der Eingangstür sorgte für dämmriges Licht. Amely drehte die Flamme so weit herunter, dass sie fast ausging, und nahm die Lampe an sich. Behutsam drehte sie den Schlüssel und huschte in die Nacht hinaus.
Sie dachte, dass sie das schlechte Gewissen plagen müsse, Bärbel hier alleinzulassen. Maria und der kleine Miguel wären ebenso nicht glücklich darüber. Auch nicht Herr Oliveira. Ja, sollten sie ihr ruhig nachweinen. Sollten sie bedauern, dass sie ihr nicht genügend beigestanden hatten. Ihr Vater sollte sich die Haare raufen, dass er sie hierhergeschickt hatte. Und da Silva, weil auch er nichts tat.
Wütend wischte sich Amely die Tränen von den Wangen, während sie über den aufgeweichten Rasen marschierte. Es war falsch gewesen, auf Schuhe zu verzichten; jederzeit konnte sie gestochen oder gebissen werden.
Aber was sollte das jetzt noch ausmachen?
Der volle Mond erhellte ihren Weg. Die Blätter raschelten in der Brise. Oder weil ein Tier sie aufwühlte. Zikaden zirpten. Ein kleiner Schatten huschte über den Rasen und verschwand im Gebüsch, hinter dem sich die Gräber der Söhne verbargen.
Der kleine Igarapé lockte mit seinem Gurgeln. Hier drehte sie das Flämmchen hoch, um nicht zu stolpern, und stellte die Lampe auf der Mauer ab. Amely musste aufpassen, auf den glitschigen Stufen nicht auszugleiten. Silberglitzer tanzte auf der Wasseroberfläche. Die Bucht des grünen Mondes wäre ein so viel schönerer letzter Ort … Aber wie sollte sie dorthin gelangen? Kilians Privathafen war nicht weit; sie konnte die Schatten der Schiffe, Kutter und Gaiolas erkennen. Amely schüttelte den Kopf. Sie hatte nie gelernt, ein Dampfboot zu bedienen und zu lenken. Und der Gedanke, sich im Dunkeln und fast schutzlos in die Wildnis zu begeben, erschreckte sie.
Sie lachte auf. Jetzt noch Furcht vor Gefahr? Wie widersinnig das doch war. Die Gefahr, entdeckt zu werden, während sie sich mit einer Gaiola abplagte, war indes vorhanden. Nein, auch dieser Ort hier war zum Sterben schön.
Trinke nun Tod dir
, hallte Alvises düstere Bassstimme in ihrem Innern.
Du bist verloren … hörst du den Gesang? Du stirbst gewiss, ehe er bis zur letzten Note erklungen
.
Amely öffnete den Geigenkasten. Behutsam legte sie ihn auf das Wasser. Er schaukelte mit dem leichten Wellenschlag. Hoffentlich kam nicht so bald der nächste Regenguss, wie jetzt häufiger im Dezember. Und hoffentlich schaffte die Geige es hinaus auf den Rio Negro. Noch schöner wäre es, trüge der Amazonas sie auf den Atlantik. Amely stellte sich vor, wie das Instrument an ein fernes, fremdes Ufer trieb. Wie vielleicht ein Fischerjunge es fand und sich fragte, welche Geschichte sich dahinter verbarg. Wem diese Briefe einst gehört hatten, die sie jetzt auf die Innenseite des Deckels legte. Wem das Glaskästchen mit dem wunderschönen Schmetterling, mit dem sie die Briefe beschwerte.
Ihre Zehen bohrten sich in Schlick und Sand. Bis zu den Knien watete sie ins Wasser, gab ihren Habseligkeiten das letzte Geleit.
Nur den Revolver hatte sie noch. Sie schob die Hand in ihr Täschchen und tastete nach dem Griff.
Felipe gähnte. In seinem Magen brodelte ein Gemisch aus Whiskey, Cachaça und Gin. In seinen Ohren hingen noch die Rhythmen der Carimbó-Trommeln. Alles war gewesen, wie es sein sollte an Véspera. Nur dass er dieses Mal nicht wie sonst den Verlockungen der Mädchen erlegen war. Es war ein angenehmes Gefühl, Amely Wittstock zu begehren – solange er dem nicht nachgab.
Einmal hatte er es getan. Hatte die Gunst des Augenblicks genutzt, sie an sich gezogen und geküsst. Ein Kuss war ein Anfang. Der erste Schritt auf einem Weg, der ihn ins Verderben führte. Das hatte er vorher gewusst. Hätte er
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