Die Bucht des grünen Mondes
waren mit weißen Bildern und Figuren geschmückt – man wusste nicht, war es die Madonna oder die alte heidnische Göttin Yemanjá, die für das Glück des nächsten Jahres sorgen sollte. Überall am Hafen und auf den Schiffen wurde gefeiert. Im Sand brannten Tausende von Kerzen.
Man vertraute der Strömung geschnitzte Miniaturboote voller Geschenke für die Göttin an. Boote voller Wünsche. Träume.
Und mein Lieben, es gleicht dem des Löwen, wenn er dürstet nach dem Blut der Beute …
Ach, wie verlockend das wäre: fort mit Felipe, eine Zukunft ganz woanders, ohne diese unsinnigen Luxusdinge, die mehr erdrückten als erfreuten. Hier und jetzt war Amely überzeugt, ein ganz einfaches Leben führen zu können. Aber selbst wenn sie dazu den Mut aufbrächte und er es wollen würde – niemals würde sie ihn in das Elend zurückstoßen, aus dem er kam und das er so hasste.
Was denkst du dir eigentlich? Er hat dich doch nur geküsst. Ein einziges Mal.
Die Glocken von São Sebastião schlugen zur Mitternacht. Fiebrige Erwartung erfasste die Gesellschaft. Kilian zog Amely in den Kreis der Kautschukbarone und Fazendeiros, wie sich die reichen Gutsherren hier nannten. Schulter an Schulter standen juwelenüberhäufte Gattinnen und die Geliebten ihrer Männer. Der letzte Glockenschlag ertönte. Irgendwo donnerten Salutschüsse.
«Einen Toast auf meinen Amtsvorgänger Eduardo Ribeiro, der Manaus zu dem machte, was es nun ist», Philetus Pires Ferreira hob sein Glas. «Auf den technischen Fortschritt, der für den Bedarf an Gummi sorgt. Auf den Kautschuk.»
«Auf Ribeiro, Gott hab ihn selig. Auf den Kautschuk!», riefen die Herren Don Germino Garrido y Otero, ein Mann mit eigener Privatarmee, und Suárez y Hermanos, der eigens aus Rio gekommen war, und wie sie alle hießen, an deren Händen das Blut Tausender klebte.
«Dass er ewig fließen möge.»
«Ewig!»
Alle rissen die Gläser in die Höhe und tranken. Es wirkte wie ein Freimaurerritual. Auf dem Fluss zischte Feuerwerk in die Höhe. Rote, blaue, goldene, silberne Bälle verströmten sich knallend am Nachthimmel, wie die Blüten riesiger exotischer Blumen.
Kilian legte den Arm um Amelys Mitte. Doch sie machte sich los und eilte den Aufweg hinunter. Der Benz Velo war umringt von neugierigen Kutschern und Passanten. Man machte ihr bereitwillig Platz und bot ihr eine Hand zum Einsteigen. Und so saß sie auf ihrer Seite des Sitzes, den überflüssigen Ledermantel mitsamt der albernen Brille auf dem Schoß. Ihr Kleid war viel zu voluminös für den kleinen Sitz und quoll seitlich fast bis zum Kautschukpflaster des Platzes. Stur schaute sie geradeaus, die Blicke der Männer missachtend: eine Königin auf ihrem Thron, die auf das Erscheinen ihres Gemahls wartete. Er würde es hassen, dass sie ihn auf diese Weise zwang, die Feier vorzeitig zu verlassen. Vielleicht würde sie seinen Zorn darüber nachher noch spüren. Vielleicht nicht. Es war ihr gleich.
Sie hatte sich ins Bett ihres eigenen Schlafzimmers verkrochen. Jenseits der Wand hörte sie Kilian im großen Himmelbett schnarchen. Das Feuerwerk war längst verstummt. Durch die geöffneten Fenster drangen Musikfetzen und Gelächter. Regen prasselte kurz nieder. Die Stadt feierte weiter. Das Haus jedoch lag längst im Schlaf.
Leise setzte sich Amely auf. Sie tastete nach dem Streichholzetui und entzündete das Petroleumlämpchen auf ihrem Nachttisch. Zwei Uhr. Wie gewohnt wollte sie die Pantoffeln ausschütteln. Aber barfuß war sie auf leiseren Sohlen unterwegs. Behutsam trug sie die wenigen Dinge zusammen, die sie nicht zurücklassen wollte. Viel war es nicht. Das Glaskästchen mit dem
Morpho menelaus
, das Geschenk des Vaters. Ihre alte Geige, die vielleicht nur unversehrt war, weil Kilian ihre Existenz vergessen hatte. Die jammervollen Briefe vom Tag ihrer Ankunft – nach dem misslungenen Ausflug zum Postamt hatte sie sie in den hintersten Winkel des Schreibtisches gestopft und nie mehr hervorgeholt.
Nun fehlte nur noch eines.
Sie starrte auf jene Schublade, die sie einmal aufgezogen hatte und dann nie wieder. Ihre Finger legten sich um den Knauf. Sie wusste, wenn sie sie jetzt öffnete, gab es kein Zurück mehr.
Langsam zog sie die Schublade auf. Der Revolver lag unverändert da.
Bist du wirklich an Schwindsucht gestorben, Madonna?
Sie umschloss den Griff. Gesehen hatte sie Schusswaffen schon oft, wenn auch nicht in der Hand einer Dame. Auch ihr Vater besaß Waffen; und wie jeder Preuße, der
Weitere Kostenlose Bücher