Die Buecher und das Paradies
Trichter der Hölle hinabsteigt und auf der anderen Seite zu Füßen des Läuterungsberges herauskommt, wo er unbekannte Sterne am Himmel sieht, sehr genau gewußt haben muß, daß die Erde rund ist. Aber lassen wir Dante beiseite, ihm trauen wir ohnehin alles zu. Tatsache ist, daß derselben Ansicht auch Origenes und Ambrosius waren, und zur Zeit der Scholastik dachten und sprachen von einer kugelförmigen Erde Albertus Magnus und Thomas von Aquin, Roger Bacon, Johannes von Sacrobosco, Peter von Ailly, Ägidius von Rom, Nikolaus von Oresme und Jean Buridan, um nur einige zu nennen.
Worum ging dann der Streit zur Zeit von Kolumbus? Ganz einfach, die Gelehrten von Salamanca hatten genauere Berechnungen als er angestellt und waren der Meinung, daß die Erde (die auch für sie kugelrund war) sehr viel größer sei, als der Genueser glaubte, weshalb es verrückt sei, sie umsegeln zu wollen, um den Osten über den Westen zu erreichen. Kolumbus dagegen, von heiligem Eifer erfüllt und ein guter Seemann, aber ein miserabler Astronom, hielt die Erde für kleiner, als sie war. Natürlich dachten weder er noch die Gelehrten von Salamanca, daß zwischen Europa und Asien ein weiterer Kontinent lag. Woran wir wieder einmal sehen, wie kompliziert das Leben ist und wie dünn die Grenzen zwischen Wahrheit und Irrtum, richtig und falsch; denn Kolumbus, der unrecht hatte, hat seinen Irrtum hartnäckig verfolgt und am Ende recht behalten - durch einen Glücksfall, ein Musterbeispiel an serendipity.
Werfen wir jedoch einen Blick in Andrew Dickson Whites monumentale History of the Warfare of Science With Theology in Christendom (New York, Appleton, 1896). Zwar will der Autor in diesen zwei dicken Bänden alle Fälle behandeln, in denen das religiöse Denken die Entwicklung der Naturwissenschaften verzögert hat, aber da er ein wohlinformierter und ehrlicher Mann ist, kann er nicht übersehen, daß Augustinus, Albertus Magnus und Thomas von Aquin sehr wohl wußten, daß die Erde rund ist. Dennoch behauptet er, um diese Ansicht vertreten zu können, hätten sie gegen das herrschende theologische Denken ankämpfen müssen. Das herrschende theologische Denken wurde aber gerade von Augustinus, Albertus Magnus und Thomas verkörpert, so daß sie gegen niemanden anzukämpfen brauchten.
Jeffrey B. Russell weist auch darauf hin, daß in einem seriösen Text wie dem von F. S. Marvin, erschienen 1921 in den von Charles J. Singer herausgegebenen Studies in the History and in the Method of Sciences, wiederholt wird, »die Karten des Ptolemäus ... waren im Westen tausend Jahre lang vergessen«, daß in einem GeographieHandbuch von 1988 (A. Holt-Jensen, Geography: History and Concepts) zu lesen steht, die mittelalterliche Kirche habe gelehrt, daß die Erde eine flache Scheibe mit Jerusalem in der Mitte sei, und daß selbst Daniel Boorstin in seinem vielgerühmten Buch The discoverers von 1983 8 behauptet, vom vierten bis zum vierzehnten Jahrhundert habe die Christenheit das Wissen um die Kugelgestalt der Erde unterdrückt.
Wie konnte sich die Vorstellung verbreiten, das Mittelalter habe die Erde als eine flache Scheibe betrachtet? Wir haben gesehen, daß Isidor von Sevilla die Länge des Äquators berechnet hatte, aber gerade in seinen Manuskripten taucht ein Diagramm auf, das viele Darstellungen unseres Planeten inspiriert hat, die sogenannte T-Karte:
Die Struktur der T-Karte ist sehr einfach: Der Kreis stellt den Planeten dar, zwei Linien in Form eines T trennen die obere Hälfte von zwei Vierteln in der unteren Hälfte. Der obere Halbkreis stellt Asien dar, mit dem Osten oben, denn im Osten Asiens lag der Legende nach das Irdische Paradies; der horizontale Strich stellt links das Schwarze Meer und rechts den Nil dar, der vertikale das Mittelmeer, weshalb das linke Viertel Europa darstellt und das rechte Afrika. Rings um das Ganze legt sich der große Kreis des Okeanos.
Wollten diese Karten etwa besagen, daß die Erde eine flache Scheibe sei?
In einer Handschrift des Liber floridus von Lambertus von St. Omer aus dem 12. Jahrhundert gibt es ein Bild des Kaisers, der eine Scheibe in der Hand hält, auf der eine Weltkarte in T-Form gezeichnet ist. Nicht zufällig erscheint diese Karte als Herrschaftssymbol in der Hand eines Kaisers. Sie hat symbolischen, nicht geographischen Wert. Mit einem bißchen guten Willen könnte man darin auch statt einer Scheibe die schematische Darstellung einer Erdkugel sehen, wie sie auf anderen Bildern
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