Die Buecher und das Paradies
leben.
Damit würden wir uns nicht nur eines banalen Euhemerismus schuldig machen, dieses skeptische Argument erwiese sich auch aufs überzeugendste als leiblicher Bruder des entgegengesetzten fideistischen Arguments. Glaubt man an eine beliebige Offenbarungsreligion, muß man zugeben, daß Christus, wenn er der Sohn Gottes ist, nicht der Messias sein kann, der in Jerusalem noch erwartet wird, und daß, wenn Mohammed Allahs Prophet ist, es verfehlt war, der Gefiederten Schlange Opfer zu bringen. Ist man ein Anhänger des aufgeklärtesten und tolerantesten Theismus, der gleichzeitig an die Kommunion der Heiligen und an das Große Rad des Tao zu glauben bereit ist, wird man den Kindermord zu Bethlehem und die Abschlachtung der Ketzer als Früchte des Irrtums verwerfen. Ist man ein Satansanbeter, wird man die Bergpredigt als kindisch abtun. Ist man ein radikaler Atheist, wird man in jedem Glauben nur eine Verirrung sehen. Folglich kommt man nicht umhin zuzugeben - da viele Menschen im Lauf der Geschichte agiert haben, weil sie an etwas glaubten, woran irgendein anderer nicht glaubte -, daß die Geschichte für jeden zu einem mehr oder weniger großen Teil der Schauplatz einer Illusion gewesen ist.
Halten wir uns daher an einen Begriff von Wahrheit und Falschheit, der weniger angefochten, wenn auch philosophisch anfechtbar ist (aber wenn man auf die Philosophen hört, ist bekanntlich alles anfechtbar und man kommt nie ans Ende). Halten wir uns an das in der abendländischen Kultur wissenschaftlich oder historisch akzeptierte Wahrheitskriterium; das heißt an jenes, nach welchem wir alle uns darüber einig sind, daß Julius Caesar an den Iden des März getötet worden ist, daß die Truppen des jungen savoyischen Königreiches am 20. September 1870 durch die Bresche der Porta Pia nach Rom eingedrungen sind, daß die Formel der Schwefelsäure H2SO4 lautet oder daß der Delphin ein Säugetier ist.
Selbstverständlich kann jede dieser Erkenntnisse aufgrund neuer Entdeckungen revidiert werden; aber einstweilen sind sie so in der Enzyklopädie registriert, und bis zum Beweis des Gegenteils glauben und betrachten wir es als eine faktische Wahrheit, daß die chemische Zusammensetzung des Wassers H 2 O ist (manche Philosophen glauben sogar, daß diese Wahrheit für alle möglichen Welten gilt).
Nun ist es im Lauf der Geschichte vorgekommen, daß Glaubensvorstellungen und Behauptungen, die von der Enzyklopädie effektiv dementiert werden, als glaubwürdig angesehen wurden; als dermaßen glaubwürdig, daß sie die Gelehrten zum Schweigen brachten, Imperien entstehen und zusammenbrechen ließen, die Dichter inspirierten (die nicht immer die Zeugen der Wahrheit sind) und die Menschen insgesamt zu heroischen Opfern, zu Intoleranz, zu Blutbädern und zur Suche nach Weisheit trieben. Wenn dem so ist, wie kann man dann leugnen, daß es eine Kraft des Falschen gibt?
Das fast kanonische Beispiel ist das der ptolemäischen Hypothese. Heute wissen wir, daß sich die Menschheit jahrhundertelang mit einem falschen Bild der Welt auf ebendieser bewegt hat. Sie hat alle möglichen Listen und Kniffe aufgeboten, um die Falschheit ihres Bildes auszugleichen, hat Epizyklen und Deferenten erfunden, hat schließlich mit Tycho Brahe versucht, die Planeten allesamt um die Sonne kreisen zu lassen, solange diese nur fortfährt, um die Erde zu kreisen. Auf der Basis dieses Bildes bewegten sich, ich sage nicht Dante Alighieri, was nichts bedeuten würde, aber die phönizischen Seefahrer,
Sankt Brendan, Eric der Rote und Christoph Kolumbus (und einer der beiden ist immerhin als erster nach Amerika gelangt). Damit nicht genug, auf der Grundlage dieser falschen Hypothese ist es gelungen, den Globus in Längen- und Breitengrade einzuteilen, so wie wir es heute noch tun, nachdem wir lediglich den Nullmeridian von den Kanarischen Inseln nach Greenwich verlagert haben.
Das Beispiel des Ptolemäus, das von weitem an die unglückliche Geschichte Galileis erinnert, scheint wie geschaffen, uns mit weltlicher Überheblichkeit glauben zu lassen, meine Geschichte der Falschheit und ihrer Macht beträfe nur Fälle, in denen dogmatisches Denken sich gegen das Licht der Wahrheit versperrt. Hier aber nun eine Geschichte mit umgekehrtem Vorzeichen: die Geschichte einer anderen Falschheit, die vom neuzeitlich-weltlichen Denken langsam aufgebaut worden ist, um das religiöse Denken zu diffamieren.
Machen wir einmal ein Experiment und fragen wir eine Durchschnittsperson,
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