Die Buecher und das Paradies
echt war. Und doch hätte ohne dieses Dokument, ohne den tiefen Glauben an seine Echtheit die europäische Geschichte einen anderen Verlauf genommen, es hätte keinen Investiturstreit gegeben, keinen tödlichen Kampf um das Heilige Römische Reich, keine weltliche Macht der Päpste, keine Ohrfeige von Anagni, aber auch keine Sixtinische Kapelle - die zwar errichtet wurde, nachdem die Fälschung entlarvt worden war, aber nur errichtet werden konnte, weil man das Dokument jahrhundertelang für echt gehalten hatte.
In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts war im Abendland ein Brief aufgetaucht, der detailliert berichtete, daß im fernen Morgenland, jenseits der von Muslimen bewohnten Gebiete, jenseits der Länder, welche die Kreuzritter aus der Herrschaft der Ungläubigen zu befreien versucht hatten, die aber inzwischen unter jene Herrschaft zurückgekehrt waren, ein christliches Reich blühe, das von einem märchenhaften Priester oder Presbyter Johannes regiert werde, der sich als »Herr der Herrschenden kraft der Macht und Herrlichkeit Gottes und Unseres Herrn Jesus Christus« bezeichne. Darin stand unter anderem zu lesen:
wisse und glaube zweifelsfrei, daß ich, der Priester Johannes, Herr der Herrschenden bin und in allen Reichtümern, die es unter dem Himmel gibt, sowie an Tugend und Macht alle Könige der Erde übertreffe. Zweiundsiebzig Könige sind Uns tributpflichtig. Ich bin ein frommer Christ und schütze überall die wahren Christen, die vom Imperium meiner Milde regiert werden, und unterstütze sie mit Almosen [...]
Unsere Herrschaft erstreckt sich über die drei Indien, bis zum Jenseitigen Indien, wo der Leib des Apostels Thomas ruht, unsere Lande reichen bis in die Wüste und weiter bis zu den Grenzen des Ostens und kehren zurück in den Westen bis in das verödete Babylon nahe dem Turm zu Babel [.] In Unserem Reich werden geboren und leben Elefanten, Kamele, Dromedare, Flußpferde, Krokodile, Methagallinare, Kametheternen, Thinsireten, Panther, Wildesel, weiße und rote Löwen, weiße Bären und weiße Amseln, stumme Zikaden, Greife, Tiger, Lamien, Hyänen, wilde Rinder, Bogenschützen, wilde Menschen, gehörnte Menschen, Faune, Satyrn und Weiber derselben Art, Pygmäen, Kynozephalen, vierzig Ellen hohe Giganten, Einäugige, Zyklopen, ein Vogel namens Phönix und fast alle Arten von Tieren unter dem Himmelsgewölbe [. ] Durch eine unserer Provinzen fließt ein Fluß namens Indus. Dieser Fluß, der aus dem Paradies kommt, breitet seine Mäander durch verschiedene Arme über die ganze Provinz aus, und man findet in ihm Edelsteine: Smaragde, Saphire, Karfunkel, Topase, Chrysolythe, Onyxe, Berylle, Amethyste, Sarder und viele andere wertvolle Steine [.]
In den äußersten Regionen der Erde [.] besitzen Wir eine Insel [. ] auf welche Gott das ganze Jahr über zweimal pro Woche reichlich Manna regnen läßt, das die Leute dort aufsammeln und essen, sie leben von keiner anderen Speise. Tatsächlich pflügen sie nicht und säen nicht und ernten nicht, auch bewegen sie in keiner Weise die Erde, um ihr die reichsten Früchte zu entnehmen [. ] All jene, die sich nur von himmlischer Speise ernähren, leben fünfhundert Jahre. Wenn sie jedoch ins Alter von hundert Jahren gelangt sind, werden sie wieder jung und kräftig, indem sie dreimal vom Wasser einer Quelle trinken, die an der Wurzel eines dort stehenden Baumes entspringt [...] Niemand unter uns lügt [...] Unter uns gibt es keine Ehebrecher. Kein Laster herrscht bei
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uns.
Übersetzt und mehrfach paraphrasiert im Laufe der folgenden Jahrhunderte hat der Brief, in verschiedenen Sprachen und Versionen, bis zum 17. Jahrhundert entscheidende Bedeutung für die Expansion des christlichen Abendlandes nach Osten gehabt. Die Idee, daß jenseits der muslimischen Länder ein christliches Reich existieren könnte, legitimierte sämtliche Erkundungs- und Eroberungszüge. Vom Priester Johannes sprachen die Asienreisenden Giovanni de Piano Carpini, Wilhelm von Rubrouk und Marco Polo. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts verlagerte sich das Reich des Priesters Johannes aus einem unbestimmten Fernen Osten nach Äthiopien, als die portugiesischen Seefahrer das afrikanische Abenteuer in Angriff nahmen. Kontakte mit dem Priesterkönig suchten im 15. Jahrhundert Englands Heinrich IV., der Duc de Berry und Papst Eugen IV. In Bologna diskutierte man noch zur Zeit der Krönung Karls V. über Johannes als möglichen Verbündeten für eine Wiedereroberung des Heiligen
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