Die Buecher und das Paradies
Abends,
Verweilte auf den Pfützen in den Abflußrinnen,
Ließ den aus Kaminen fallenden Ruß auf seinen Rücken fallen, Schlüpfte auf die Terrasse, tat einen plötzlichen Sprung,
Und als er sah, daß es ein milder Oktoberabend war,
Kringelte er sich einmal ums Haus und schlief ein.
Während der menschliche Reisende sich zu schnell voranbewegt, um wahrzunehmen, wie die Mauern und Straßenecken in London beschaffen sind, wird der Leser hier aufgefordert, sich vorzustellen, mit welcher Geschwindigkeit der Nebel vorankriecht. Die Folge ist, daß man beim Lesen sozusagen die Gangart verlangsamt, um jedem Mauervorsprung und jeder Fensterkante zu folgen -ganz so, wie es uns erginge, wenn wir aufgefordert würden, uns vorzustellen, wie eine Ameise durch die Tiefen und über die Höhen eines Raumfragments krabbelt, das wir in einem Augenblick mit unserer Fußsohle bedecken.
Es ist nicht meine Absicht, in der knappen Zeit eines Kongreßbeitrags die unerschöpfliche Typologie der Hypotypose zu erschöpfen. Ich deute nur einige Forschungsrichtungen an.
Man könnte die verschiedenen Techniken der Fokussierung analysieren. Zum Beispiel wäre die schöne Analyse zu erneuern, die Joseph Frank in wahrhaft vorsemiotischer Zeit von der Jahresversammlung der Landwirte in Madame Bovary gemacht hat - wo die drei Ebenen des Platzes, der Tribüne und des Rathaussaals sozusagen simultan montiert werden, beziehungsweise in einer Art Montage a la Griffith, um durch diese zeitliche Engführung einen visuellen Effekt zu erzeugen. 14 Man müßte selbstverständlich auf die beiden Schlachten von Waterloo zurückkommen, die in Stendhals Chartreuse, die aus der Froschperspektive gesehen wird (von einem
Fabrice, der mittendrin ist und sich in den Räumen, durch die er zufällig läuft, verirrt, während ihm der globale Raum des Zusammenstoßes entgeht), und die in Hugos Misérables, die aus der Vogelperspektive von einem allwissenden Autor gesehen wird, der auch noch diejenigen Räume analysiert, die Napoleon nicht sieht. Ich habe an anderer Stelle 15 über die verschiedenen Blickwinkel gesprochen, die zu Beginn von Manzonis Promessi Sposi schrittweise den Raum jenes ramo del lago di Como erschaffen - wobei das Spiel der Blickwinkel noch durch eine besondere Syntax unterstützt wird. Es würde sich auch lohnen, Schritt für Schritt den Anblick der drei Bäume während der Spazierfahrt mit Madame de Villeparisis in Teil 2 von A l’ombre des jeunes filles en fleurs zu verfolgen, um ein doppeltes Phänomen zu erfassen: eine allmähliche Verschiebung des Blickwinkels und die wiederholte Unterbrechung der Raumbeschreibung durch andere Reflexionen, die Zeit (zum Lesen) und Raum (für die Schrift) erfordern, um so das Gefühl der Fahrt zu verdeutlichen und die langsame Veränderung des Blickwinkels zu rechtfertigen.
Man könnte noch lange fortfahren, aber ich denke, es lohnt sich der Versuch, anstelle einer Konklusion zu resümieren, was diese verschiedenen Techniken und folglich diese verschiedenen Erscheinungsformen der Hypotypose miteinander verbindet. Es wurde schon mehrmals angedeutet und braucht nur noch zusammengefaßt zu werden. Die Hypotypose beruht nicht auf einer semantischen Regel, wie es bei den Tropen und Redefiguren der Fall ist, bei denen man, wenn man die Regel nicht kennt, nicht versteht, was gesagt wird. Wenn per Metonymie der Behälter anstelle des Inhalts genannt wird (»trinken wir ein Gläschen«), glaubt der Adressat, der die Regel nicht kennt, er werde aufgefordert, einen festen Gegenstand zu schlürfen. Wenn per Analogie oder Metapher gesagt wird, ein junges Mädchen sei eine Hindin, wird der Ahnungslose, der die Regel nicht kennt, verwundert bemerken, daß die Betreffende weder Hufe noch Hörner hat. Aber gewöhnlich kommt es nicht zu solchen Mißverständnissen, außer in komischen oder surrealen Erzählungen.
Dagegen kann der Adressat in allen hier aufgeführten Fällen von Hypotypose sehr gut vermeiden, an der Visualisierung mitzuarbeiten. Er kann sich darauf beschränken zur Kenntnis zu nehmen, daß ihm gesagt wird, eine Stadt werde geplündert, eine Schublade sei voller Krimskrams, ein gewisser Bruder Jean sei ein Prahlhans. Wir haben sogar unterstellt, daß er sich bei Robbe-Grillet weigern kann, etwas Genaues zu sehen, ja, sich vielleicht sogar weigern soll, weil der Autor wahrscheinlich genau diese Weigerung, einen Exzeß an Visualisierung mitzumachen, hervortreiben wollte.
Mithin wäre die Hypotypose (unter
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