Die Buecher und das Paradies
anderem, als Denkfigur, die ähnlich der Ironie und anderen verwandten Figuren komplexe Textstrategien erfordert und sich niemals durch ein rasches Zitat oder eine Formel exemplifizieren läßt) ein semantischpragmatisches Phänomen und somit ein Musterbeispiel für interpretierende Mitarbeit. Nicht so sehr Darstellung als vielmehr Technik zur Stimulierung des Lesers, sich eine visuelle Darstellung zu konstruieren, sich ein Bild zu machen.
Und in der Tat, warum sollten wir annehmen, daß Wörter sichtbar machen, wo sie doch gerade erfunden worden sind, um von dem zu sprechen, was wir nicht vor
Augen haben und folglich nicht mit dem Finger zeigen können? Das Höchste, was Wörter tun können (da sie emotionale Wirkungen erzeugen), ist, unsere Vorstellungskraft anzuregen.
Die Hypotypose benutzt Wörter, um den Adressaten zu ermuntern, sich eine visuelle Darstellung zu konstruieren. Beweis dafür sind die Dramen jener Bemühung, die das Gegenteil der Ekphrase (der Beschreibung eines Bildes in Worten) ist, nämlich der bildlichen »Übersetzung« oder Materialisierung dessen, was ein verbaler Text an Vorstellungen anregt. Kommen wir noch einmal auf die Offenbarung Johannis zurück. Das Drama aller mozarabischen Miniaturenmaler (der Illustratoren jener prächtigen frühmittelalterlichen Kommentare zur Apokalypse, die unter dem Namen Beatus bekannt sind) war die Darstellung jener vier Lebewesen, die sich »in der Mitte am Thron und um den Thron« befinden (nach der Vulgata, der einzigen Version, welche die Miniaturenmaler kannten, super thronum et circa thronum). Wie können diese vier Kreaturen gleichzeitig über und um etwas sein?
Sieht man die Lösungen der verschiedenen Beati durch, so erkennt man, daß die Aufgabe unmöglich war und Darstellungen erbracht hat, die den Text nicht in befriedigender Weise »übersetzen«. Und dies, weil die Miniaturenmaler in der griechischchristlichen Tradition aufgewachsen waren und daher dachten, der Autor dieses Textes habe etwas wie eine Statue oder ein Bild »gesehen«. Aber der kulturelle Hintergrund des Johannes, wie auch der des Propheten Ezechiel, von dessen Vision er sich inspirieren ließ, war jüdisch, und was er sah, war überdies die Vision eines Sehers. Infolgedessen erzählte Johannes keine Bilder (oder Statuen), sondern allenfalls Träume oder, wenn wir so wollen, Filme (die ja Träume mit offenen Augen sind oder auf den weltlichen Status reduzierte Visionen). In einer Vision der filmischen Art können die vier Lebewesen durchaus rotieren und bald über dem Thron, bald vor ihm und bald rings um ihn erscheinen. 16
Doch in diesem Sinne konnte der mozarabische Miniaturenmaler nicht mit dem Text kooperieren, und so mußte die Hypotypose in seinen Händen und seinem Kopf (zumindest für dieses Detail) mehr oder minder scheitern. Erneuter Beweis dafür, daß es keine Hypotypose gibt, wenn der Adressat nicht mitspielt.
1
(a) glaubwürdiges Bild der Dinge, das die Zuhörer gleichsam zu dem gegenwärtigen Ding hinzuführen scheint, (b) vor Augen gestellte Form der Dinge, die durch Worte so ausgedrückt wird, daß man sie besser zu sehen als zu hören meint, (c) die etwas ebenso zu sagen wie vorzuzeigen scheint, indem sie das Gezeigte vor Augen stellt, (d) Methode, die Taten gleichsam vor Augen zu führen (A. d. Ü.).
2
Jetzt: Hermann Parret, »Au nom de l’hypotypose«, in Jean Petitot und Paolo Fabbri, Au nom du Sens: autour de l’œuvre d’Umberto Eco (Colloque de Cerisy, 29 juin au 9 juillet 1996), Paris, Grasset, 2000, S. 139 - 154.
3
Dt. von Friedrich Schiller (1804), jetzt Stuttgart, Reclam, 1955, S. 55.
4
Vgl. »Die Zeit in der Kunst«, in Über Spiegel und andere Phänomene, Hanser 1985, S. 143 - 154.
5
George Lakoff/Mark Johnson, Leben in Metaphern: Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, dt. von Astrid Hildenbrand, Heidelberg, Carl-Auer-Systeme, 1999.
6
Dt. von Hans Wollschläger, Suhrkamp 1975, S. 915 f.
7
Dt. von Anjuta Aigner-Dünnwald und Friedhelm Kemp, München, Winkler, 1989, zit. nach der Rowohlt-Ausgabe G. de Nerval, Die Töchter der Flamme, »Rowohlt Jahrhundert« Bd. 81, Reinbek 1991, S. 132.
Dt. von Gottlob Regis (1832), zuletzt Hanser 1964, S. 77 f.
Dt. von Joachim Kalka, Flächenland, Stuttgart, Klett, 1982, S. 14.
8
Anspielung auf das Gedicht »Abschiede, Pfiffe im Dunkeln ...«, das mit den Versen endet: Presti anche tu alla fioca / litania del tuo rapido quest’orrida / e fedele cadenza di carioca? (wörtl.:
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