Die Bücher von Umber, Band 3: Das Ende der Zeit
»Reboot: Zeige die Partitur von Beethovens Dritter Symphonie ab dem zweiten Satz.« Das Gewünschte erschien auf dem Computerbildschirm: Unzählige Symbole, Zahlen und Striche waren auf waagerechten Linien angeordnet.
Der Molton stand im offenen Kamin mit seinem einen Bein und dem Eisenstift unsicher auf. Steif humpelte er aus dem Feuer, bediente sich an ein paar Kohlestücken, die Umber in einem Eimer bereitgestellt hatte, und warf sie sich in das breite Maul.
»Hallo Shale«, begrüÃte Umber den Molton. Die Kreatur hob ihr steinernes Gesicht, das abgesehen vom Glitzern der Edelsteinaugen ausdruckslos blieb. Umber stellte eine Schreibfeder und ein Tintenfass auf den Tisch und holte aus einer Ecke des Zimmers einen Hocker herbei. Diesen Hocker, der zwischen den Beinen mit Stufen versehen war, um dem Molton das Heraufklettern zu erleichtern, hatte Hap vorher noch nie bemerkt. »Du kannst an der Stelle weitermachen, wo du mit dem Abschreiben dieser Symphonie aufgehört hast. Und friss weiterhin Kohlen, damit du nicht auskühlst, in Ordnung? So istâs brav.« Der Molton nickte; anscheinend verstand er jedes Wort.
»Er heiÃt Shale, wie der Schiefer?«, fragte Hap.
»Ich habe mit dem Gedanken gespielt, ihn in Rocky, also Stein, umzubenennen, habe dann aber doch den Namen der Dwergh beibehalten«, antwortete Umber. Erfreut beobachtete er, wie das Steinwesen die Schreibfeder nahm, sie in die Tinte tauchte und mit der Arbeit begann.
Hap befand sich in Sophies Atelier und sah ihr bei der Vorbereitung eines Stiches zu. Es handelte sich um ein Bild der Seeriesen, jener gewaltigen Kreaturen, denen sie vor der felsigen Küste von Celador begegnet waren. Sie hatte sie genau so wiedergegeben, wie Hap sie in Erinnerung hatte: schlummernd am Rand ihrer Höhle, während das vom Ozean gespiegelte Licht auf ihren bizarr aussehenden Körpern schimmerte. Bei der Erinnerung beschleunigte sich Haps Puls. Umber konnte leichtfertig sein, aber nie war er leichtfertiger gewesen als damals, als er diese titanischen Biester beinahe aufgeweckt hatte. Immerhin handelte es sich bei ihnen um dieselben Riesen, die Kurahaven mehr als ein Jahrhundert zuvor in einen Trümmerhaufen verwandelt hatten.
»Das ist wirklich beeindruckend«, kommentierte Hap. »Wie kannst du dir das, was du gesehen hast, nur so gut einprägen?« Lächelnd zuckte sie mit den Schultern. Sophie hatte die Angewohnheit, immer wegzuschauen, sobald ihre und Haps Blicke sich trafen. Doch diesmal sah sie ihm so lange in die Augen, dass er merkte, wie er rot wurde.
»Du bist in letzter Zeit anders«, bemerkte sie.
»Wirklich?«
Sie nickte und sah ihn noch intensiver an. »Als wir dich fanden, warst du wie ein kleiner Junge. So hilflos. Aber du hast dich verändert.«
Unwillkürlich legte Hap eine Hand an seine Schläfe und spürte seine Haare unter den Fingern.
»Das, was mit deinen Haaren passiert, meine ich nicht«, stellte Sophie klar. »Du selbst bist es. Du bist ⦠irgendwie älter.«
Hap spürte winzige SchweiÃperlen auf seiner Stirn. »Tatsächlich?«
Die Ateliertür öffnete sich quietschend und Umber streckte den Kopf herein. Hap atmete auf. Irgendwie kam diese Störung zugleich gelegen und ungelegen.
Umber begann aufgeregt und lauter als nötig zu sprechen. »Happenstance! Da bist du ja. Geh in dein Zimmer und zieh dir deine besten Sachen an.«
»Gehen ⦠Gehen wir irgendwohin?«, fragte Hap.
»Wir sind zum Palast beordert worden«, sagte Umber.
»Wir beide sind zum Palast beordert worden?«
Umber grinste. »Nun ja, nur ich, das ist ja klar, aber du weiÃt doch, wie es ist â ich brauche deine Begleitung. Also, mach dich fein und komm dann unverzüglich nach unten.« Umbers Kopf verschwand und seine Schritte verhallten.
Hap wandte sich wieder Sophie zu, doch die hatte ihm ihren Rücken zugewandt und reinigte einen Pinsel, den sie etwas zu energisch in einem Glas herumschwenkte. »Viel Vergnügen im Palast, Happenstance. Ich nehme an, du wirst da deine kleine Freundin antreffen.«
Die Kutsche rumpelte die Auffahrt hinunter. Hap fiel auf, wie sorgfältig Umber sich für diesen Besuch ausstaffiert hatte. Er trug seine besten Stiefel, die frisch geputzt und mit glänzenden Goldschnallen versehen waren. An Stelle der abgetragenen Weste mit den vielen Taschen, die er so liebte, hatte er ein
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