Die Bücherdiebin
Knattern von Gewehrfeuer. Wenn die Menschen trotz dieser Umstände überleb en, so sind sie doch meist ihrer Behausungen beraubt. Dann begegnen mir überall die Heimatlosen. Sie kommen mir nach, wenn ich durch die Straßen der misshandelten Städte gehe. Sie flehen mich an, sie mitzunehmen, und merken nicht, dass ich ohnehin schon genug zu tun habe. »Eure Zeit wird kommen«, versichere ich ihnen dann und versuche, nicht zurückzuschauen. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte ihnen erklären, wie viel Arbeit ich schon habe, aber das tue ich nicht. Niemals. Ich beklage mich nur im Stillen, während ich meine Aufgabe erledige. In bestimmten Jahren kann man jedoch nicht mehr davon sprechen, dass sich die Toten lediglich summieren; ihre Zahl steigt ins Unermessliche.
EINE VERKÜRZT E AUFZÄHLUNG FÜR DAS JAHR 1942
1 . Die verzweifelten Juden - ihre Seelen in meinem Schoß, während wir auf dem Dach sitzen, neben den rauchenden Schornsteinen.
2. Die russischen Soldaten - nur mit wenig Munition im Gepäck und zuversichtlich, die Kugeln der Gefallenen aufsammeln zu können.
3. Die durchtränkten Körper an der französischen Küste - angespült auf Kies und Sand.
Ich könnte so weitermachen, aber ich denke, dass für den Moment drei Beispiele reichen. Sie sollen genügen, um euch einen Eindruck von dem Geschmack nach Asche zu vermitteln, der in diesem Jahr mein Dasein begleitete.
So viele Menschen. So viele Farben.
Sie lösen sich beständig in mir auf. Sie piesacken meine Erinnerung. Ich sehe sie in hohen Haufen aufeinanderliegen. Die Luft ist wie Plastik, der Horizont wie angetrockneter Kleister. Himmel, die von Menschen gemacht sind, durchstochen und leck, und die weichen, kohlefarbenen Wolken, die wie schwarze Herzen schlagen.
Und dann.
Ist da der Tod.
Der sich seinen Weg durch alles bahnt. Äußerlich: unerschütterlich, unbeirrt. Innerlich: zermürbt, zerfahren, zunichtegemacht.
Um die Wahrheit zu sagen (und mir ist klar, dass ich jetzt wirklich anfange zu jammern), war ich noch nicht über Stalin in Russland hinweg. Über die sogenannte Zweite Revolution - den Mord an seinem eigenen Volk.
Dann kam Hitler.
Man sagt, dass der Krieg der beste Freund des Todes ist, aber da muss ich euch berichtigen. Für mich ist der Krieg wie ein neuer Vorgesetzter, der Unmögliches von einem erwartet. Er steht hinter einem und wiederholt immer nur das eine: »Erledige dies, erledige das.« Also arbeitet man härter. Man erledigt dies und das. Aber der Vorgesetzte dankt es einem nicht. Er verlangt nur noch mehr.
Oft versuche ich, mich an die verstreuten Eindrücke von Schönheit zu erinnern, die ich manchmal in dieser Zeit sah. Ich durchforsche meine Bibliothek der Geschichten.
Genau in diesem Augenblick greife ich nach einer.
Ich denke, die Hälfte der Geschichte kennt ihr bereits, und wenn ihr mich begleitet, werde ich euch auch noch den Rest zeigen. Ich zeige euch die zweite Hälfte der Bücherdiebin.
Ahnungslos wartet sie auf die zahlreichen Ereignisse, die ich euch gerade angedeutet habe, aber sie wartet auch auf euch.
Sie bringt Schnee in den Keller, ausgerechnet dorthin.
Ein Haufen gefrorenes Wasser kann beinahe jeden zum Lächeln bringen, aber nicht dazu zu vergessen.
Hier kommt sie.
der schneemann
In Bezug auf Liesel Meminger konnten die Anfänge des Jahres 1942 wie folgt zusammengefasst werden:
Sie wurde dreizehn Jahre alt. Ihre Brust war immer noch flach. Sie hatte noch nicht ihre Periode bekommen. Der junge Mann aus dem Keller lag jetzt in ihrem Bett.
FRAGE UND ANTWORT
Wie landete Max Vandenburg in Liesels Bett?
Er fiel.
Die Meinungen hierzu gingen auseinander, aber Rosa Hubermann behauptete, dass die Ursache an Weihnachten zu suchen war.
Der 24. Dezember war hungrig und kalt gewesen, aber er brachte auch Erleichterung - nämlich keine ausgedehnten Besuche. Hans junior schoss auf die Russen und bewahrte gleichzeitig seine Distanz zur Familie. Trudi konnte nur für ein paar Stunden am Wochenende vor Weihnachten vorbeikommen. Sie fuhr mit der Familie, für die sie arbeitete, weg. Urlaub, ein Ereignis, das nur eine ganz bestimmte Klasse Deutschlands erleben durfte.
An Heiligabend brachte Liesel ein paar Handvoll Schnee in den Keller, als Geschenk. »Mach die Augen zu«, sagte sie. »Streck die Hände aus.« Sobald der Schnee darauf abgelegt war, zitterte Max und lachte, aber er machte die Augen nicht auf. Er schmeckte nur kurz den Schnee und ließ ihn in die Haut auf seinen Lippen sinken.
»Ist
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