Die Bücherdiebin
Decken! Bring sie in dein Zimmer, auf dein Bett damit. Und du!« Papa war als Nächstes dran. »Hilf mir, ihn hochzuheben und ihn zu Liesel zu tragen. Schnell!«
Papas Gesicht war vor Sorge verzerrt. Seine grauen Augen klirrten, und er hob Max ganz alleine hoch. Der Jude war so leicht wie ein Kind. »Kann er nicht hierbleiben, in unserem Bett?«
Rosa hatte bereits daran gedacht. »Nein. Wir müssen die Vorhänge tagsüber offen lassen, sonst schöpft jemand Verdacht.«
»Du hast recht.« Hans trug ihn hinaus.
Mit den Decken in der Hand schaute Liesel zu.
Schlaffe Füße und baumelndes Haar im Flur. Ein Schuh war ihm vom Fuß gefallen. »Beeil dich!«
Mama marschierte mit ihrem Watschelgang hinter ihnen her.
Max lag im Bett und wurde unter Decken begraben, die fest um seinen Körper gelegt wurden. »Mama?«
Mehr brachte Liesel nicht heraus.
»Was?« Der Knoten, zu dem Rosa Hubermann ihre Haare am Hinterkopf festgesteckt hatte, war straff genug, um einem Angst einzujagen. Er schien sich noch stärker festzuziehen, als sie die Frage wiederholte. »Was, Liesel?«
Sie trat näher und fürchtete sich vor der Antwort. »Ist er am Leben?«
Rosa drehte sich zu ihr um und sagte mit größter Bestimmtheit: »Hör mal zu, Liesel. Ich habe diesen Mann nicht unter meinem Dach aufgenommen, um ihn sterben zu lassen. Verstanden?«
Liesel nickte.
»Jetzt raus mit dir.«
Im Flur umarmte Papa sie. Das hatte sie nötig gehabt.
Später in der Nacht hörte sie Hans und Rosa miteinander sprechen. Rosa wollte, dass Liesel bei ihnen schlief, und sie lag neben dem Bett ihrer Pflegeeltern auf dem Boden, auf der Matratze, die sie aus dem Keller geholt hatten. (Zunächst hatten sie sich Sorgen gemacht, ob von der Matratze eine Ansteckungsgefahr ausging, aber sie kamen zu dem Schluss, dass solche Befürchtungen unbegründet waren. Max litt nicht an einer Virusinfektion, und so trugen sie die Matratze hinauf und wechselten lediglich das Laken.)
Mama glaubte, Liesel würde schlafen, und so sprach sie frei heraus.
»Dieser verdammte Schneemann«, raunte sie. »Ich wette, damit hat es angefi ng und Schnee unten im Keller Unfug zu treiben, wo es ohnehin schon so kalt ist!«
Im Laufe der Nacht erhielt Max sieben Mal Besuch.
MAX VANDENBURGS BESUCHERLISTE
Hans Hubermann: 2 x Rosa Hubermann: 2 x Liesel Meminger: 3 x
Am nächsten Morgen holte Liesel sein Skizzenbuch aus dem Keller und legte es auf den Nachttisch. Sie hatte ein fürchterlich schlechtes Gewissen, weil sie damals unerlaubt hineingeschaut hatte, und hielt es diesmal aus Respekt fest verschlossen.
Papa kam herein, aber sie drehte sich nicht um, sondern sprach stattdessen über Max Vandenburg hinweg gegen die Wand. »Warum habe ich bloß den ganzen Schnee nach unten gebracht?«, fragte sie. »Damit hat alles angefangen, nicht wahr, Papa?« Sie faltete die Hände, als wollte sie beten. »Warum musste ich nur diesen Schneemann bauen?«
Ehre, wem Ehre gebührt: Papa blieb unerschütterlich. »Liesel«, sagte er, »du musstest es tun.«
Stundenlang saß sie bei ihm, während er zitterte und schlief. »Stirb nicht«, flüsterte sie. »Bitte, Max, stirb nur nicht.«
Er war der zweite Schneemann, der vor ihren Augen dahinschmolz, aber dieser war anders. Er war ein Paradox.
Je kälter er wurde, desto mehr schmolz er.
dreizehn geschenke
Es war, als würde Liesel Max' Ankunft noch einmal erleben, nur in umgekehrter Reihenfolge.
Federn verwandelten sich wieder in Geäst. Ein weiches Gesicht wurde rau und kratzig. Das war der Beweis, den sie haben wollte: Er war am Leben.
Während der ersten paar Tage war sie bei ihm und redete mit ihm. An ihrem Geburtstag erzählte sie ihm, dass in der Küche ein riesiger Kuchen auf ihn wartete, wenn er nur aufwachen würde.
Es gab kein Aufwachen.
Es gab keinen Kuchen.
ES WAR EINMAL IN EINER NACHT
Viel später wurde mir klar, dass ich während dieser Zeit die Himmelstraße 33 aufgesucht haben muss. Es muss in einem der wenigen Momente gewesen sein, als das Mädchen nicht bei ihm war, denn alles, was ich sah, war ein Mann in einem Bett. Ich kniete nieder. Ich machte mich bereit, meine Hände in die Decken einzutauchen. Dann spürte ich ein starkes Wiederaufleben -einen kraftvollen Kampf gegen mein Gewicht. Ich zog mich zurück. Bei der ganzen Arbeit, die auf mich wartete, war es ein Genuss, dass ich in diesem kleinen, dunklen Raum abgewehrt worden war. Ich hielt kurz inne, schloss die Augen und gab mich einem Moment der Gelassenheit und Ruhe
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