Die Bücherdiebin
und Täler. Irgendwie hatte es sich erst in den Flur und später in die Besenkammer verirrt. Wie ein halber Stern mit einem Stiel. Liesel nahm es und drehte es zwischen ihren Fingern hin und her.
Anders als die anderen Gegenstände legte sie das Blatt nicht auf den Nachttisch. Sie befestigte es mit einer Stecknadel an den geschlossenen Vorhängen, kurz bevor sie die letzten vierunddreißig Seiten des Pfeifers las.
An diesem Tag aß sie kein Abendessen und ging nicht auf die Toilette. Sie trank keinen Tropfen. In der Schule schwor sie sich, dass sie heute das Buch zu Ende lesen und dass Max Vandenburg zuhören würde. Er würde aufwachen.
Papa saß auf dem Boden in der Ecke, ohne Beschäftigung, wie immer. Glücklicherweise würde er sich schon bald mit seinem Akkordeon auf den Weg zum »Knoller« machen. Sein Kinn ruhte auf den Knien, und er lauschte dem Mädchen, dem er mühsam das Alphabet beigebracht hatte. Stolz las sie Max Vandenburg die letzten, beängstigenden Worte des Buches vor.
DAS ENDE VOM PFEIFER
An diesem Morgen vernebelte die Wiener Luft die Fenster des Zuges, und während die Menschen ahnungslos zur Arbeit fuhren, pfiff ein Mörder fröhlich seine Weise.
Er kaufte sich eine Fahrkarte. Er tauschte Höflichkeiten mit dem Schaffner und Mitreisenden aus. Er bot sogar einer älteren Dame seinen Sitzplatz an und unterhielt sich angeregt mit einem Glücksspieler, der von amerikanischen Pferden erzählte. Der Pfeifer liebte die Unterhaltung.
Er redete mit den Menschen und narrte sie, indem er sie dazu brachte, ihn zu mögen, ihm zu vertrauen. Er redete mit ihnen, während er sie tötete, sie folterte und das Messer umdrehte. Nur wenn er niemanden zum Reden hatte, pfiff er, was auch der Grund war, warum er es so häufig nach einem Mord tat.
»Also glauben Sie, dass Nummer sieben die Rennbahn liegen wird, ja?«
»Natürlich.« Der Glücksspieler grinste. Schon war das Vertrauen erschaffen. »Er wird von hinten kommen und den anderen das Fell über die Ohren ziehen!« Er musste schreien, um den Lärm des Zuges zu übertönen. »Wenn Sie meinen.« Der Pfeifer grinste ebenfalls. Dann dachte er ausgiebig darüber nach, wann man wohl die Leiche des Inspektors in dem brandneuen BMW finden würde.
»Jesus, Maria und Josef.« Hans konnte sich einen ungläubigen Ton nicht verkneifen. »Eine Nonne hat dir das geschenkt?« Er stand auf, ging zu ihr und küsste sie auf die Stirn. »Mach's gut, Liesel, der >Knoller< wartet.«
»Mach's gut, Papa.«
»Liesel!« Sie achtete nicht darauf. »Komm, und iss etwas!«
Jetzt antwortete sie. »Ich komme, Mama.« Sie sprach die Worte zu Max. Sie kam näher und legte das fertig gelesene Buch auf den Nachttisch, zu allen anderen Dingen. Über ihn gebeugt, konnte sie nicht anders. »Komm schon, Max«, flüsterte sie. Selbst als sie merkte, dass Mama hinter sie trat, hörte sie nicht auf, lautlos zu weinen. Sie hörte nicht auf. Sie ließ einen Klumpen Salzwasser aus ihrem Auge fallen und fütterte damit Max Vandenburgs Gesicht.
Mama nahm sie.
Ihre Arme verschluckten sie.
»Ich weiß«, sagte sie.
Sie wusste es.
frische luft, ein alter albtraum und die frage, was man mit einer jüdischen leiche anstellen soll
Sie saßen an der Amper, und Liesel hatte Rudi gerade erklärt, dass sie gerne ein weiteres Buch aus der Bibliothek des Bürgermeisters stehlen würde. Nach dem Pfeifer hatte sie, an Max' Seite sitzend, mehrmals den Überstehmann gelesen. Das dauerte jeweils nur wenige Minuten. Sie versuchte es auch mit dem Schulterzucken und sogar mit dem Handbuch für Totengräber, aber nichts davon schien geeignet zu sein. Ich brauche etwas Neues, dachte sie.
»Hast du denn das letzte Buch überhaupt gelesen?«
»Natürlich habe ich das.«
Rudi warf einen Stein ins Wasser. »War es gut?«
»Natürlich war es das.«
»Natürlich habe ich das, natürlich war es das«, äffte er sie nach. Er versuchte, einen neuen Stein aus dem Boden zu graben, schnitt sich dabei aber in den Finger.
»Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein.«
»Saumensch.«
Wenn das letzte Wort, das jemand zu erwidern hat, »Saumensch« oder »Saukerl« ist, weiß man, dass man gewonnen hat.
Die Bedingungen für einen Diebeszug waren perfekt. Es war ein trüber Nachmittag Anfang März und nur ein paar Grad über dem Gefrierpunkt - irgendwie unangenehmer als zehn Grad minus. Nur wenige Leute waren unterwegs. Regen wie Bleistiftspäne.
»Machen wir's?«
»Wir nehmen die Räder«, sagte Rudi. »Du kannst
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