Die Bücherdiebin
eins von uns haben.«
Rudi bestand darauf, dass diesmal er es war, der einstieg. »Heute bin ich dran«, sagte er, während seine Finger am Lenker festfroren.
Liesel dachte schnell nach. »Vielleicht besser nicht, Rudi. Da steht überall Zeug herum. Und es ist dunkel. Ein Depp wie du fällt bestimmt über irgendwas oder wirft etwas um.«
»Herzlichen Dank.« Rudi ließ sich nicht beirren.
»Und dann musst du springen. Es ist tiefer, als man denkt.«
»Glaubst du vielleicht, ich könnte das nicht?«
Liesel stellte sich in den Pedalen auf. »Nein, ganz und gar nicht.«
Sie überquerten die Brücke und schlängelten sich den Hügel zur Großen Straße hinauf. Das Fenster stand offen.
Wie beim letzten Mal nahmen sie das Haus genau unter die Lupe. Sie konnten ein wenig ins Innere sehen, dort wo im Erdgeschoss ein Licht brannte, wahrscheinlich in der Küche. Ein Schatten bewegte sich hin und her.
»Wir fahren ein paar Mal um den Block«, sagte Rudi. »Wie gut, dass wir die Fahrräder mitgenommen haben.«
»Pass bloß auf, dass du daran denkst, deins wieder mit heimzunehmen.«
»Sehr witzig, Saumensch. Immerhin ist es ein bisschen größer als deine verdreckten Schuhe.«
Sie fuhren etwa eine Viertelstunde lang hin und her. Immer noch befand sich die Frau des Bürgermeisters im Erdgeschoss, ein bisschen zu nah an der Bibliothek, als dass sie es gewagt hätten einzusteigen. Es war beinahe unverschämt, mit welcher Ausdauer sie sich in der Küche aufhielt. Rudi betrachtete die Küche als eigentliches Ziel. Er wäre hineingegangen, hätte so viele Lebensmittel eingepackt, wie er tragen konnte, und dann - und nur dann - hätte er sich, wenn er noch Zeit gehabt hätte, auf dem Weg nach draußen irgendein Buch in den Hosenbund gestopft.
Aber Rudis Schwäche war seine Ungeduld. »Es wird spät«, sagte er und wollte wegfahren. »Kommst du?«
Liesel kam nicht.
Es gab nichts, worüber sie nachdenken musste. Sie hatte sich mit diesem rostigen Fahrrad der ganzen Hügel hinaufgeschleppt, und sie würde nicht ohne ein Buch gehen. Sie legte den Lenker in den Rinnstein, schaute sich nach den Nachbarhäusern um und ging dann zum Fenster. Sie ging zügig, aber ohne Eile. Sie zog die Schuhe aus, wobei sie mit der Fußspitze den jeweils anderen Absatz nach unten trat.
Ihre Finger umschlossen das Holz, und sie schob sich ins Haus.
Diesmal fühlte sie sich ruhiger, wenn auch nur ein wenig. In nur wenigen kostbaren Momenten huschte sie durch das Zimmer und hielt nach einem Titel Ausschau, der sie fesselte. Drei oder vier Mal hätte sie beinahe zugegriffen. Sie überlegte sogar, ob sie mehr als ein Buch mitnehmen sollte, aber sie wollte ihr System nicht durchbrechen. Im Augenblick war nur ein Buch nötig. Sie betrachtete die Regale und wartete.
Mehr Dunkelheit kam durch das Fenster hinter ihr geklettert. Der Geruch nach Staub und Diebstahl hing im Hintergrund, und dann sah sie es.
Das Buch war rot und hatte auf dem Rücken eine schwarze Schrift. Der Traumträger. Sie dachte an Max Vandenburg und an seine Träume. Von Schuld. Überleben. Verlassen. Kämpfen. Sie dachte auch an ihre eigenen Träume - von ihrem Bruder, tot im Zug -, und sie dachte an sein Auftauchen auf den Stufen dieses Hauses. Die Bücherdiebin sah sein blutiges Knie. Er war gefallen, weil sie ihn gestoßen hatte.
Sie zog das Buch aus dem Regal, steckte es sich unter den Arm, kletterte auf den Fenstersims und sprang hinunter, alles mit einer einzigen, fließenden Bewegung.
Rudi hatte ihre Schuhe. Er hielt ihr Fahrrad bereit. Sie zog die Schuhe an, und sie fuhren los.
»Jesus, Maria und Josef, Meminger.« Er hatte sie noch nie Meminger genannt. »Du hast einen Knall. Weißt du das?«
Liesel nickte, während sie wie wahnsinnig in die Pedale trat. »Ich weiß.«
Auf der Brücke fasste Rudi die Ereignisse des Nachmittags in wenigen Worten zusammen. »Diese Leute sind entweder völlig verrückt«, sagte er, »oder sie können nicht genug Frischluft kriegen.«
EINE ALTERNATIVE
Oder vielleicht gab es da eine Frau in der Großen Straße, die das Fenster der Bibliothek aus einem anderen Grund offen ließ. Aber das ist nur meine persönliche zynische - oder hoffnungsvolle - Meinung. Oder beides.
Liesel kam heim, legte den Traumträger neben ihre Jacke und fing sofort an zu lesen. Sie setzte sich auf den Holzstuhl neben ihrem Bett, öffnete das Buch und flüsterte: »Es ist ein neues Buch,
Max. Nur für dich.« Sie fing an: »Kapitel 1. Es war nur recht, dass die
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