Die Bücherdiebin
ganze Stadt schlief, als der Traumträger geboren wurde ...«
Jeden Tag las Liesel zwei Kapitel aus dem Buch vor. Am Morgen, bevor sie zur Schule ging, und sobald sie wieder nach Hause kam. Manchmal konnte sie na chts nicht schlafen und las noch die Hälfte eines dritten Kapitels. Manchmal schlief sie dabei ein, sackte nach vorn auf die Bettkante.
Sie hatte eine Mission.
Sie schenkte Max das Buch, als ob allein die Worte ihn ernähren könnten. An einem Dienstag glaubte sie, eine Bewegung wahrzunehmen. Sie hätte schwören können, dass sich seine Augen geöffnet hätten. Wenn es so war, war es eine Sache von Sekunden. Aber die Wahrscheinlichkeit war groß, dass es sich nur um Wunschdenken und Einbildung handelte.
Mitte März zeigten sich erste Risse.
Rosa Hubermann, die Frau, die eine Krise meistern konnte, war eines Nachmittags in der Küche einem Zusammenbruch nahe. Sie hob ihre Stimme und senkte sie dann schnell wieder. Liesel hörte auf zu lesen und schlich sich leise in den Flur. Obwohl sie ganz nah vor der Küche stand, konnte sie die Worte ihrer Mama kaum verstehen. Dann wünschte sie sich, sie hätte sie tatsächlich nicht verstanden, denn was sie hörte, war schrecklich. Es war die Wirklichkeit.
DER INHALT VON MAMAS STIMME
»Was, wenn er nicht mehr aufwacht? Was, wenn er hier stirbt, Hansi? Sag's mir. Was in Gottes Namen sollen wir mit der Leiche machen? Wir können ihn nicht hierlassen. Der Gestank bringt uns um. Und wir können ihn nicht hinaustragen und durch die Straße schleppen. Wir können nicht einfach sagen: Ihr werdet nie erraten, was wir heute Morgen in unserem Keller gefunden haben. Die holen uns weg.«
Sie hatte völlig recht.
Eine jüdische Leiche war ein großes Problem. Die Hubermanns mussten Max wiederbeleben, nicht nur um seinetwillen, sondern auch um ihretwillen. Selbst Papa, der stets ruhig blieb, fühlte die Anspannung.
»Hör zu.« Seine Stimme war leise, aber schwer. »Wenn es passiert - wenn er stirbt -, dann müssen wir einfach einen Weg finden.« Liesel glaubte, ihn schlucken zu hören. Ein Würgen, als hätte er einen Schlag gegen die Luftröhre bekommen. »Mein Karren. Ein paar Lumpen ...«
Liesel kam in die Küche.
»Nicht jetzt, Liesel.« Es war Papa, der das sagte, wobei er sie nicht anschaute. Er betrachtete sein verformtes Gesicht in der Rückseite eines Löffels. Seine Ellbogen bohrten sich in die Tischplatte.
Die Bücherdiebin trat nicht den Rückzug an. Sie machte ein paar Schritte nach vorn und setzte sich hin. Ihre kalten Hände tasteten nach ihren Ärmeln, und sie ließ einen Satz aus ihrem Mund fallen. »Noch ist er nicht tot.« Die Worte landeten auf dem Tisch und schoben sich in die Mitte. Alle drei schauten sie an. Leise Hoffnung, die nicht höher zu steigen wagte. Noch ist er nicht tot. Noch ist er nicht tot.
Rosa sprach als Nächste.
»Wer hat Hunger?«
Die einzige Zeit, in der Max' Krankheit nicht schmerzte, war während des Essens. Diese Tatsache ließ sich nicht leugnen, am allerwenigsten, wenn die drei am Küchentisch saßen, mit einer Extraportion Brot, Suppe oder Kartoffeln. Sie alle dachten es, aber keiner sprach es aus.
In der Nacht, nur wenige Stunden später, wachte Liesel auf und wunderte sich, wieso ihr Herz im Himmel hing. (Diesen Ausdruck hatte sie aus dem Traumträger gelernt, der das vollkommene Gegenteil des Pfeifers war - es ging um einen verlassenen Jungen, der Priester werden wollte.) Liesel setzte sich auf und saugte tief die Nachtluft ein.
»Liesel?« Papa drehte sich um. »Was ist los?«
»Nichts, Papa. Alles in Ordnung.« Doch in dem Moment, in dem sie den Satz aussprach, sah sie vor sich, was in ihrem Traum geschehen war.
EIN KLEINES BILD
Das meiste ist so wie immer. Der Zug fahrt mit derselben Geschwindigkeit. Ihr Bruder hustet ausgiebig. Diesmal allerdings kann Liesel sein zu Boden gerichtetes Gesicht nicht sehen. Langsam beugt sie sich vor. Ihre Hände heben sanft sein Kinn, und da, vor ihr, ist das großäugige Gesicht von Max Vandenburg. Er starrt sie an. Eine Feder fällt zu Boden. Der Körper ist jetzt größer, passend zum Umfang des Gesichts. Der Zug kreischt.
»Liesel?«
»Ich sagte, alles in Ordnung.«
Zitternd kletterte sie von der Matratze. Benommen vor Angst, ging sie durch den Flur zu Max. Nach ein paar Minuten an seiner Seite, als sich alles wieder etwas beruhigt hatte, versuchte sie, den Traum zu deuten. War es eine Vorahnung von Max' Tod? Oder war es nur die Folge des Gesprächs in der Küche?
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