Die Bücherdiebin
erwiderte Papa mit ruhiger, aber giftiger Stimme: »Nun, sie musst du aber auch nicht fragen.« Er schnickte etwas Asche aus dem offenen Fenster. »Sie ist schon nach der dritten Klasse abgegangen.«
Im Hause Hubermann gab es keine Bücher (außer dem einen, das Liesel unter ihrer Matratze versteckte), und alles, was sie tun konnte, war, das Alphabet leise vor sich hinzumurmeln, bis man ihr unmissverständlich klarmachte, dass sie gefälligst den Mund halten sollte. Das ganze Gemurmel und Gebrummel. Erst später, als es zu einem bettnässenden Albtraum gekommen war, nahm ein außergewöhnlicher Nachhilfeunterricht im Lesen seinen Anfang. Inoffiziell wurde er »Mitternachtsklasse« genannt, obwohl er gewöhnlich erst gegen zwei Uhr morgens begann. Aber davon später mehr.
Mitte Februar, als sie zehn wurde, bekam Liesel eine gebrauchte Puppe mit gelben Haaren, der ein Bein fehlte.
»Mehr können wir uns nicht leisten«, sagte Papa entschuldigend.
»Was redest du da? Sie soll froh sein, dass sie überhaupt etwas kriegt«, mischte sich Mama ein.
Hans fuhr mit der Begutachtung des vorhandenen Puppenbeins fort, während Liesel ihre neue Uniform anzog. Mit zehn Jahren ging man zur Hitlerjugend. Bei der Hitlerjugend bekam man eine schmale braune Uniform. Weil Liesel ein Mädchen war, wurde sie zum JM geschickt.
ERKLÄRUNG DER VORGENANNTEN ABKÜRZUNG
JM = Jungmädelbund
Als Erstes wurde den Mädchen dort beigebracht, den Hitlergruß ordentlich auszuführen, mit einem klar vernehmlichen »Heil Hitler«. Als Nächstes lernten sie, in Reih und Glied zu marschieren, Bandagen aufzurollen und Kleider zu flicken. Es fanden auch Wanderungen und andere Aktivitäten statt und mittwochs und samstags Versammlungen, von drei bis fünf Uhr nachmittags.
Jeden Mittwoch und jeden Samstag brachte Papa Liesel dorthin und holte sie zwei Stunden später wieder ab. Sie sprachen nicht viel über diese zwei Stunden. Sie hielten sich an der Hand und lauschten dem Klang ihrer Schritte, und Papa rauchte ein oder zwei Zigaretten.
Die einzige Sorge, die Papa Liesel bereitete, war der Umstand, dass er ständig fortging. Oft trat er abends ins Wohnzimmer (das gleichzeitig auch als Schlafzimmer der Hubermanns diente), nahm das Akkordeon aus der alten Kommode und verließ das Haus durch die Küche.
Wenn er schon draußen auf der Himmelstraße war, öffnete Mama das Fenster und brüllte ihm hinterher: »Komm nicht zu spät nach Hause!«
»Nicht so laut«, gab er dann zurück und drehte sich halb um.
»Saukerl! Leck mich doch am Arsch! Ich rede so laut, wie ich will!«
Das Echo ihrer Flüche folgte ihm die Straße entlang. Er schaute nie zurück, jedenfalls nicht, bis er sicher war, dass Rosa Hubermann nicht mehr am Fenster stand. Erst am Ende der Straße, kurz bevor er Frau Lindners Eckladen erreichte, drehte er sich dann mit dem Akkordeonkasten in der Hand um und betrachtete die Gestalt, die nun statt seiner Frau im Fenster stand. Kurz hob sich seine schmale, geisterhafte Hand, und dann wandte er sich wieder um und ging langsam weiter. Liesel sah ihn erst um zwei Uhr morgens wieder, wenn er sie sanft aus ihrem Albtraum riss.
Die Abende in der kleinen Küche waren wüst und wild, ohne Ausnahme. Rosa Hubermann redete die ganze Zeit, und wenn sie redete, dann schimpfte sie. Ständig stritt sie und beklagte sich. Es gab zwar eigentlich niemanden, mit dem sie sich streiten konnte, aber Mama ergriff dennoch jede sich bietende Gelegenheit. Sie konnte sich in dieser Küche mit der ganzen Welt anlegen, und sie tat es auch fast jeden Abend. Wenn sie mit dem Essen fertig waren und Papa gegangen war, blieben Liesel und Rosa meist in der Küche, und Rosa erledigte die Bügelarbeit.
Ein paar Mal in der Woche ging Liesel nach der Schule mit Mama durch die Straßen von Molching und nahm in den wohlhabenderen Vierteln Schmutzwäsche an und lieferte gebügelte Wäsche aus. Knauptstraße, Heidestraße, ein paar andere. Mama machte stets ein pflichtschuldiges Gesicht, wenn sie die Wäsche abgab oder in Empfang nahm, aber sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte und sie weitergegangen waren, verfluchte sie diese reichen Leute, die faul waren und Geld hatten.
»Zu g'schtinkert, um ihre eigenen Sachen zu waschen«, sagte sie dann, obwohl sie auf die Arbeit angewiesen war.
»Der da«, sagte sie über Herrn Vogel in der Heidestraße, »der hat sein ganzes Geld vom Vater geerbt. Er verprasst es für Frauen und Schnaps. Und natürlich fürs Waschen und
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