Die Bücherdiebin
es dir besser gehen.«
»Was ist passiert?«, fragte Liesel. »Ist dies hier die Himmelstraße?«
»Ja.« Der Mann hatte enttäuschte Augen. Was hatte er in den letzten Jahren alles gesehen? »Das ist die Himmelstraße. Du bist ausgebombt worden, Mädchen. Es tut mir so leid. Liebes.«
Ihr Mund wanderte weiter, obwohl ihr Körper nun stillstand. Sie hatte ihr Geheul nach Hans Hubermann vergessen. Das war Jahre her - das war das Werk der Bomben. Sie sagte: »Wir müssen zu meinem Papa und meiner Mama. Wir müssen Max aus dem Keller holen. Wenn er nicht im Keller ist, ist er im Flur und schaut aus dem Fenster. Das macht er manchmal bei einem Luftangriff - er kriegt den Himmel nicht oft zu sehen, wissen Sie? Ich muss ihm sagen, wie das Wetter jetzt ist. Er wird mir das nicht glauben...«
Ihr Körper gab nach, und der Mann von der LSE fing sie auf und setzte sie nieder. »Wir bringen sie gleich weg«, erklärte er seinem Unteroffizier. Die Bücherdiebin bemerkte etwas Schweres, Schmerzendes in ihrer Hand und schaute nach.
Das Buch. Die Worte.
Ihre Finger bluteten, genau wie an dem Tag, an dem sie hier angekommen war.
Der Mann von der LSE half ihr auf die Füße und wollte sie wegführen. Ein Holzlöffel brannte. Ein Mann ging mit einem zerbrochenen Akkordeonkasten vorbei, und Liesel konnte das Instrument im Innern sehen. Sie sah die weißen Zähne und die schwarzen Noten dazwischen. Sie lächelten sie an und brachten Liesel in die Wirklichkeit zurück. Wir sind ausgebombt worden, dachte sie, und sie wandte sich zu dem Mann an ihrer Seite. »Das Akkordeon gehört meinem Papa.« Noch einmal. »Das Akkordeon gehört meinem Papa.«
»Hab keine Angst, Mädchen, du bist in Sicherheit. Nur noch ein kleines Stück weiter.«
Aber Liesel ging nicht weiter.
Sie schaute dorthin, wo der Mann das Akkordeon hinbrachte, und folgte ihm. Während der rote Himmel noch immer die wunderschöne Asche zerstreute, hielt sie den groß gewachsenen Arbeiter der LSE an und sagte: »Ich kann Ihnen das gerne abnehmen - es gehört meinem Papa.« Sanft nahm sie dem Mann den Kasten aus der Hand und wollte ihn wegtragen. Und in diesem Moment sah sie den ersten Leichnam.
Der Akkordeonkasten fiel ihr aus der Hand. Der Klang einer Explosion.
Frau Holzinger lag mit abgespreizten Gliedern auf dem Boden.
DIE NÄCHSTEN ZWÖLF STUNDEN IN LIESEL MEMINGERS LEBEN
Sie dreht sich auf dem Absatz herum und schaut den zersplitterten Kanal entlang, der einst die Himmelstraße gewesen war. Sie sieht zwei Männer einen Körper tragen, und sie folgt ihnen.
Als sie die anderen sah, musste sie husten. Sie lauschte einen Moment, während einer der Männer den anderen erzählte, dass sie eine der Leichen in Stücke zerfetzt gefunden hatten, in einem Ahornbaum.
Erschlagene Schlafanzüge und zerrissene Gesichter. Es war das Haar des Jungen, das sie zuerst sah.
Rudi?
»Rudi?«
Er lag da, mit gelben Haaren und geschlossenen Lippen. Die Bücherdiebin rannte zu ihm und fiel hin. Sie ließ das schwarze Buch los. »Rudi«, schluchzte sie, »wach auf...« Sie packte ihn am Schlafanzug und schüttelte ihn leicht, ungläubig. »Wach auf, Rudi«, und jetzt, während der Himmel die Erde weiter aufheizte und mit Asche bestäubte, hielt Liesel Rudi Steiners Schlafanzugjacke mit beiden Händen. »Rudi, bitte.« Die Tränen hakten sich an ihrem Gesicht fest. »Rudi, bitte, wach auf. Verdammt nochmal, wach auf. Ich liebe dich doch. Komm schon, Rudi, komm schon, Jesse Owens, weißt du denn nicht, dass ich dich liebe, wach auf, wach auf, wach auf...«
Aber die Welt kümmerte es nicht.
Der Schutt häufte sich noch höher auf. Zementhügel mit roten Gipfeln. Ein wunderschönes, tränenzerrüttetes Mädchen, das die Toten schüttelt.
»Komm schon, Jesse Owens...«
Aber der Junge wachte nicht auf.
Ungläubig vergrub Liesel den Kopf an Rudis Brust. Sie hielt seinen schlaffen Körper fest und versuchte zu vermeiden, dass er nach hinten rutschte, bis sie ihn schließlich doch auf dem geschlachteten Boden niederlassen musste. Sie tat es sanft.
Langsam, langsam. »Lieber Gott, Rudi...«
Sie beugte sich vor und schaute in sein lebloses Gesicht. Liesel küsste ihren besten Freund, Rudi Steiner, behutsam und wahrhaftig, auf seine Lippen. Er schmeckte staubig und süß. Er schmeckte nach dem Bedauern im Schatten der Bäume und im Schimmer der Anzugsammlung des Anarchisten. Sie küsste ihn lang und sanft, und als sie sich zurückzog, berührte sie seinen Mund mit den Fingern. Ihre
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