Die Bücherdiebin
»Jesse Owens« rief, während er durch ein eingebildetes Zielband lief. Ich sah ihn bis zur Hüfte in eiskaltem Wasser stehen und nach einem Buch angeln, und ich sah einen Jungen im Bett liegen und sich vorstellen, wie ein Kuss von den herrlichen Lippen der Nachbarin schmecken würde. Er stellt etwas mit mir an, dieser Junge. Jedes Mal. Das ist sein einziges Vergehen. Er tritt mir aufs Herz. Er bringt mich zum Weinen.
Schließlich die Hubermanns. Hans. Papa.
Er lag lang im Bett, und ich konnte das Silber durch seine Augenlider schimmern sehen. Seine Seele saß aufrecht da. Sie kam mir entgegen. Diese Art Seelen tun das - die besten von ihnen. Diejenigen, die sich erheben und sagen: »Ich weiß, wer du bist, und ich bin bereit. Nicht dass ich gehen möchte, natürlich nicht, aber ich werde mitkommen.« Diese Seelen sind immer leicht, denn das meiste von ihnen ist ausgelöscht. Der größte Teil von ihnen hat bereits den Weg zu anderen Orten gefunden. Diese hier wurde hinausgeschickt durch den Atem eines Akkordeons, durch den merkwürdigen Geschmack von Champagner im Sommer und durch die Kunst, ein Versprechen zu halten. Er lag in meinen Armen und ruhte. Ich spürte ein kitzelndes Verlangen nach einer letzten Zigarette und den starken, fast magnetischen Drang hin zum
Keller, zu dem Mädchen, das seine Tochter war und das dort ein Buch schrieb, von dem er hoffte, es eines Tages zu lesen.
Liesel.
Seine Seele flüsterte ihren Namen, während ich ihn forttrug. Aber in diesem Haus gab es keine Liesel. Jedenfalls nicht für mich.
Für mich war nur eine Rosa da, und ja, ich glaube tatsächlich, dass ich sie mitten im Schnarchen hochhob, denn ihr Mund war halb geöffnet, und ihre rosafarbenen Papierlippen waren mitten in der Bewegung verharrt. Wenn sie mich gesehen hätte, hätte sie mich vermutlich »Saukerl« genannt, und ich hätte es ihr nicht übel genommen. Später, nachdem ich Die Bücherdiebin gelesen hatte, wusste ich, dass sie jeden so nannte. Saukerl. Saumensch. Besonders diejenigen, die sie liebte. Ihr elastisches Haar war gelöst. Es rieb gegen das Kissen, und ihr schrankförmiger Körper hatte sich mit dem Schlag ihres Herzens gehoben. Und seid versichert, diese Frau hatte tatsächlich ein Herz, und zwar ein größeres, als die meisten Leute vermutet hätten. Da war eine Menge drin, aufgestapelt, meterhoch auf verborgenen Regalen. Erinnert euch, dass sie die Frau war, die mit dem Akkordeon am Körper in jenen langen Mondspaltennächten auf dem Bett gesessen hatte. Sie war die Frau, die einen Juden durchgefüttert hatte, ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen, nicht in der ersten Nacht und auch nicht danach. Und sie war eine Frau, die mit ausgestrecktem Arm tief in eine Matratze hineingegriffen hatte, um einem jungen Mädchen ein Skizzenbuch zu geben.
DAS LETZTE GLÜCK
Ich ging von einer Straße zur anderen und kehrte wegen eines einzigen Mannes namens Schultz noch einmal in die Himmelstraße zurück.
Er hatte es in dem zusammengefallenen Haus nicht aushalten können, und ich trug seine Seele die Himmelstraße entlang, als ich bemerkte, wie die Männer von der LSE anfingen zu schreien und zu lachen.
In dem Berg aus Schutt war ein kleines Tal.
Der heiße Himmel war rot und kreiselte um sich selbst. Pfefferstreifen dehnten sich aus, und ich wurde neugierig. Ja, ja, ich weiß, was ich euch am Anfang gesagt habe. Normalerweise führt meine Neugier dazu, dass ich Zeuge eines wie auch immer gearteten menschlichen Aufschreis werde, aber bei dieser Gelegenheit muss ich sagen, dass ich froh war - und es immer noch bin, froh, dass ich dabei war, obwohl es mir das Herz brach.
Es stimmt, sie fing an zu heulen und nach Hans Hubermann zu schreien, als man sie herauszog. Die Männer der LSE versuchten, sie mit ihren staubigen Armen festzuhalten, aber die Bücherdiebin konnte sich losreißen. Verzweifelten Menschen scheint das recht oft zu gelingen.
Sie wusste nicht, wohin sie rannte, denn die Himmelstraße gab es nicht mehr. Alles war neu und apokalyptisch. Warum war der Himmel rot? Schneite es tatsächlich? Und warum verbrannten die Schneeflocken ihr die Arme?
Liesel verlangsamte ihre Schritte zu einem taumelnden Gang und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag.
Wo ist Frau Lindners Eckladen?, fragte sie sich. Wo ist...?
Sie wanderte noch ein Stückchen weiter, bis der Mann, der sie gefunden hatte, ihren Arm nahm und auf sie einredete: »Du hast einen Schock, Mädchen. Es ist nur ein Schock, bald wird
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