Die Bücherdiebin
Rudi war überraschend gut.
Während die Prüfung ihren Lauf nahm, saß Liesel mit einer Mischung aus heißer Erregung und maßloser Angst da. Sie wünschte sich verzweifelt, ihre Fähigkeit einschätzen zu können, ein für alle Mal herauszufinden, welche Fortschritte sie mit dem Lesen gemacht hatte. War sie der Aufgabe gewachsen? Konnte sie sich auch nur annähernd mit Rudi und den anderen messen?
Jedes Mal, wenn Schwester Maria auf ihre Liste schaute, verkrampfte sich ein Nervenstrang in Liesels Brustkorb. Es hatte im Bauch angefangen, sich aber mittlerweile nach oben gearbeitet. Bald schon würde der Krampf um ihren Hals liegen wie ein dickes Seil.
Nachdem Tommi Müller seine mittelmäßige Vorstellung abgegeben hatte, sah sich Liesel im Klassenzimmer um. Alle hatten vorgelesen. Sie war als Einzige noch übrig.
»Sehr gut.« Schwester Maria nahm die Liste noch einmal genau in Augenschein. »Das war's.« Was? »Nein!«
Auf der anderen Seite des Raums nahm die Stimme eine fast körperliche Form an. An ihr hing ein Junge mit zitronengelben Haaren, dessen knochige Knie in den Hosenbeinen unter dem Tisch aneinanderklapperten. Er hob die Hand und sagte: »Schwester Maria, ich glaube, Sie haben Liesel vergessen.«
Schwester Maria. Blieb unbeeindruckt.
Sie ließ die Mappe mit der Liste vor sich auf das Pult fallen und betrachtete Rudi m it seufzender Missbilligung. Ihr Seufzen war beinahe schon melancholisch. Warum, so klagte sie still, musste sie sich mit Rudi Steiner herumärgern? Er konnte einfach seinen Mund nicht halten. Warum nur, Gott, warum?
»Nein«, sagte sie, mit Endgültigkeit in der Stimme. Ihr kleiner Bauch neigte sich zusammen mit dem Rest ihres Körpers nach vorn. »Ich fürchte, Liesel kann das nicht, Rudi.« Die Lehrerin schaute dorthin, wo Liesel saß, als erwartete sie eine Bestätigung. »Sie kann mir später vorlesen.«
Das Mädchen räusperte sich und sprach mit gelassener Aufsässigkeit. »Ich kann jetzt lesen, Schwester.« Die Mehrzahl der Kinder verfolgte die Szene schweigsam. Ein paar von ihnen übten sich in der herrlichen Kindheitskunst des Kicherns.
Der Schwester riss der Geduldsfaden. »Nein, das kannst du nicht! - Was machst du da?«
Denn Liesel war aufgestanden und ging nun langsam und steif nach vorne zur Tafel. Sie hob das Buch auf und öffnete es irgendwo in der Mitte.
»Also gut«, sagte Schwester Maria. »Du willst also vorlesen? Dann lies vor.«
»Ja, Schwester.« Nach einem hastigen Blick auf Rudi sah Liesel hinab und begutachtete die Seite.
Als sie wieder aufschaute, wurde der Raum zunächst auseinandergezogen und dann wieder zusammengepresst. Die Kinder wurden zerquetscht, direkt vor ihren Augen, und in einem Augenblick voll hellem Strahlen stellte sie sich vor, dass sie die ganze Seite in fehlerlosem, flüssigem Triumph vorlas.
DER KNACKPUNKT
... stellte sie sich vor...
»Mach schon, Liesel!« Rudi brach das Schweigen. Die Bücherdiebin sah wieder auf die Worte herab.
Mach schon. Diesmal sprach Rudi lautlos, bewegte nur die Lippen. Mach schon, Liesel.
Ihr Blut wurde lauter. Die Sätze verschwammen.
Die weiße Seite war plötzlich in einer fremden Sprache bedruckt, und es half auch nichts, dass sich jetzt Tränen in ihren Augen bildeten. Sie konnte die Worte nicht einmal mehr sehen.
Und die Sonne. Diese schreckliche Sonne. Sie brach durch das Fenster - das Glas war überall - und beschien geradewegs die Niederlage des Mädchens. Sie schrie ihr ins Gesicht: »Du kannst zwar ein Buch stehlen, aber lesen kannst du es nicht!«
Da dämmerte es ihr. Die Lösung.
Sie atmete und atmete und fing an zu lesen, aber nicht aus dem Buch, das sie in der Hand hielt. Es war eine Stelle aus dem Handbuch für Totengräber, Kapitel 3: »Wenn Schnee liegt«. Sie sprach der Stimme von Hans Hubermann in ihrem Innern nach.
»Wenn Schnee liegt«, sagte sie, »ist der Gebrauch einer guten Schaufel unerlässlich. Man muss tief graben, auch wenn die Bedingungen widrig sind. Schlamperei würde sich rächen.« Wieder saugte sie einen großen Klumpen Luft ein. »In den wärmeren Stunden des Tages ist es selbstverständlich einfacher...«
Es war vorbei.
Das Buch wurde ihr aus der Hand gerissen, und eine Stimme befahl ihr: »Raus auf den Gang, Liesel.«
Während sie im Gang eine gewatscht bekam - diesmal beinahe sanft -, konnte sie in den Pausen zwischen Schwester Marias klatschender Hand die anderen im Klassenzimmer lachen hören. Sie sah sie vor sich. All die zerquetschten Kinder.
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