Die Bücherdiebin
insgesamt etwa zweihundert Worte.
Das wird schwieriger, als ich dachte.
Sie erwischte ihn dabei, wie er das dachte.
Er hievte sich nach vorn, erhob sich auf die Füße und ging hinaus.
Als er zurückkam, sagte er: »Ich habe eine bessere Idee.« In seiner Hand hielt er einen dicken Malerbleistift und einen Stapel Sandpapier. »Wir fangen ganz von vorne an.« Liesel hatte nichts dagegen einzuwenden.
In die linke Ecke der Rückseite eines Blatts Sandpapier zog er ein Quadrat von etwa drei Zentimetern Kantenlänge und schob den Großbuchstaben »A« hinein. In die andere Ecke platzierte er das kleine »a«. So weit, so gut.
»A«, sagte Liesel.
»>A< wie...?«
Sie lächelte. »Apfel.«
Er schrieb das Wort in Großbuchstaben auf und malte ungeschickt einen Apfel darunter. Er war Anstreicher, kein Künstler. Als er fertig war, schaute er sie an und sagte: »Nun zum >B<.«
Während sie sich durch das Alphabet arbeiteten, wurden Liesels Augen immer größer. Sie hatte es schon in der Schule durchgenommen, in der ersten Klasse, aber diesmal war alles viel besser. Hier war sie allein mit Papa, und sie kam sich nicht wie ein ungeschickter Riese vor. Es war schön, Papas Hand zu beobachten, die die Worte schrieb und stockend die einfachen Zeichnungen anfertigte.
»Komm schon, Liesel«, sagte er, als sie zögerte. »Was fängt mit einem >S< an? Es ist so leich t - enttäusch mich nicht.«
Ihr fiel nichts ein.
»Na, komm schon!« Sein Flüstern spielte mit ihr. »Denk an Mama.«
Da schlug ihr das Wort mitten ins Gesicht. Ein Grinsen, ohne nachzudenken. »SAUMENSCH!«, rief sie, und Papa brüllte vor Lachen - und hörte abrupt wieder auf.
»Psst, wir müssen leise sein.« Dann fing er erneut an zu lachen, schrieb das Wort auf und fügte eine Zeichnung hinzu.
EIN KUNSTWERK VON HANS HUBERMANN
»Papa«, flüsterte Liesel, »ich hab ja gar keine Augen.«
Er streichelte dem Mädchen übers Haar. Sie war ihm in die Falle gegangen. »Mit einem Lächeln wie dem deinen«, sagte Hans Hubermann, »brauchst du keine Augen.« Er umarmte sie und schaute dann wieder das Bild an. Sein Gesicht war aus warmem Silber. »Jetzt das >T<.«
Als sie das Alphabet vollendet hatten und etliche Male durchgegangen waren, beugte Papa sich vor und sagte: »Genug für heute Nacht.«
»Noch ein paar Worte mehr!«
Er blieb hart. »Genug. Wenn du aufwachst, werde ich Akkordeon für dich spielen.« »Danke, Papa.«
»Gute Nacht.« Ein leises, einsilbiges Lachen. »Gute Nacht, Saumensch.« »Gute Nacht, Papa.«
Er schaltete das Licht aus, kam zurück und setzte sich auf den Stuhl. In der Dunkelheit behielt Liesel die Augen offen. Sie sah die Worte vor sich.
der geruch von freundschaft
So ging es weiter.
In den folgenden Wochen und weit in den Sommer hinein folgte auf jeden Albtraum der Mitternachtsunterricht. Zwei weitere Male war das Bett eingenässt, aber Hans Hubermann wiederholte lediglich seine heldenhafte Reinigung und wandte sich dann den wichtigeren Aufgaben zu: dem Lesen, Zeichnen und Nachsprechen. In den frühen Morgenstunden waren selbst leise Stimmen laut.
An einen Donnerstag, kurz nach drei Uhr nachmittags, sagte Mama zu Liesel, sie solle sich fertig machen, um mit ihr die Bügelwäsche auszuliefern. Papa allerdings hatte etwas anderes vor.
Er ging in die Küche und sagte: »Tut mir leid, Mama, heute kommt sie nicht mit.«
Mama machte sich nicht einmal die Mühe, von ihrem Wäschesack aufzuschauen. »Wer hat dich denn gefragt, Arschloch? Los jetzt, Liesel.«
»Sie liest«, sagte er. Papa schenkte Liesel ein festes Lächeln und ein Zwinkern. »Mit mir. Ich unterrichte sie. Wir gehen zur Amper, flussaufwärts, wo ich früher mit dem Akkordeon geübt habe.«
Jetzt hatte er ihre volle Aufmerksamkeit.
Mama stellte die Wäsche auf den Tisch und raffte ein gutes Maß an Zynismus zusammen. »Was hast du gesagt?«
»Du hast mich schon verstanden, Rosa.«
»Was zum Teufel kannst du ihr schon beibringen?« Ein gefalztes Grinsen. Worte wie ein rechter Haken. »Als ob du so gut lesen könntest, du Saukerl.«
Die Küche wartete. Papa schlug zurück. »Wir liefern auch die Wäsche für dich aus.«
»Du dreckiger...« Sie verstummte. Die Worte fielen in ihren Mund zurück, und sie überlegte. »Ihr seid vor Sonnenuntergang wieder da.«
»Im Dunkeln können wir sowieso nicht lesen«, sagte Liesel.
»Was hast du gesagt, Saumensch?«
»Nichts, Mama.«
Papa grinste und zeigte mit dem Finger auf das Mädchen. »Buch, Sandpapier,
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