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Die Bücherdiebin

Die Bücherdiebin

Titel: Die Bücherdiebin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Zusak
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Grinsend und lachend. Gebadet in Sonnenschein. Alle lachten - alle außer Rudi.
    In der Pause wurde sie gehänselt. Ein Junge namens Ludwig Schmeikl kam mit einem Buch auf sie zu. »He, Liesel«, sagte er. »Ich kann das Wort hier nicht lesen. Liest du es mir bitte vor?« Er lachte - ein zehnjähriges, selbstgefälliges Lachen. »Dummkopf!«
    Wolken füllten jetzt den Himmel, große und ungeschickte Wolken, und immer mehr Kinder bedachten Liesel mit Schmähworten und sahen zu, wie sie vor Wut kochte.
    »Hör nicht auf sie«, sagte Rudi zu ihr.
    »Du hast leicht reden. Du bist ja nicht der Dummkopf.«
    Gegen Ende der Pause standen neunzehn Kommentare zu Buche. Beim zwanzigsten riss Liesel der Geduldsfaden. Es traf Schmeikl, der nicht genug hatte kriegen können. Er hatte ihr wieder das Buch unter die Nase gehalten. »Ach, komm schon, Liesel, hilf mir!«
    Und Liesel half ihm, auf ihre Weise.
    Sie stand auf und nahm es ihm aus der Hand. Während er noch einigen Kindern über die Schulter hinweg zugrinste, warf sie das Buch weg und trat ihn, so fest sie konnte, in den Unterleib.
    Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, klappte Ludwig Schmeikl zusammen wie ein Taschenmesser, und auf dem Weg nach unten bekam er noch einen Hieb aufs Ohr. Nachdem er gelandet war, setzte sich Liesel auf ihn drauf, und dann wurde Ludwig geschlagen und gekratzt und geprügelt, von einem Mädchen, das mit Haut und Haaren vor Zorn zerfressen war. Seine Haut war so warm und weich. Ihre Knöchel und Fingernägel waren so erschreckend hart, trotz ihrer Schmächtigkeit. »Du Saukerl!« Auch ihre Stimme war in der Lage, ihn zu zerkratzen. »Du Arschloch! Kannst du >Arschloch< buchstabieren?«
    Oh, wie die Wolken stolperten und sich dümmlich am Himmel zusammenrotteten.
    Große, fette Wolken.
    Dunkel und plump.
    Sie stießen gegeneinander. Entschuldigten sich. Rückten ab und suchten sich einen anderen Platz.
    Kinder waren da, so schnell wie... wie sich eben nur Kinder um eine Prügelei versammeln können. Ein Gewimmel aus Armen und Beinen, aus Schreien und Anfeuerungen wuchs an, wurde dichter. Sie alle schauten zu, wie Liesel Meminger Ludwig Schmeikl die Abreibung seines Lebens verpasste. »Jesus, Maria und Josef«, ließ sich eine schrille Mädchenstimme vernehmen. »Sie bringt ihn noch um!«
    Liesel brachte ihn nicht um.
    Aber sie war kurz davor.
    Was sie davon abhielt, war das mitleiderregend zuckende und grinsende Gesicht von Tommi Müller. Immer noch bis zu den Haarspitzen mit Adrenalin angefüllt, fiel Liesels Blick auf den Jungen, der so lächerlich grinste, dass sie ihn herbeizerrte, ihn niederwarf und anfing, auch ihn zu verdreschen.
    »Was machst du denn?«, heulte er, und erst dann, nach dem dritten oder vierten Schlag und dem Anblick eines Rinnsals aus hellem Blut, das aus seiner Nase tröpfelte, hörte sie auf.
    Auf Händen und Knien sog sie die Luft ein und lauschte auf das Stöhnen unter ihr. Sie schaute auf den Mahlstrom aus Gesichtern rechts und links von ihr und verkündete: »Ich bin kein Dummkopf.«
    Niemand widersprach.
    Erst als alle wieder hineingingen und Schwester Maria sah, in welchem Zustand sich Ludwig Schmeikl befand, ging der Krieg weiter. Zunächst fiel der Verdacht auf Rudi und ein paar andere. Sie rauften ständig miteinander. »Hände vorzeigen!«, lautete der Befehl. Aber die Jungen waren allesamt sauber.
    »Ich kann es nicht glauben«, murmelte die Schwester, »das kann doch nicht wahr sein«, denn als Liesel vortrat, um ihre Hände zu zeigen, stand klar und deutlich auf allen beiden »Ludwig Schmeikl« geschrieben, in dunklem Rot, das langsam zu Rost antrocknete. »Raus auf den Gang«, befahl Schwester Maria ihr zum zweiten Mal an diesem Tag. Oder vielmehr zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde.
    Diesmal fiel die Abreibung weniger sanft aus. Diesmal war es keine Durchschnittsabreibung. Diesmal war es ernst. Unnachgiebig stachen Stockschläge in ihr Hinterteil, einer nach dem anderen, sodass Liesel eine Woche lang kaum noch sitzen konnte. Diesmal drang auch kein Gelächter aus dem Klassenzimmer. Diesmal war es ein ängstliches, ein lauschendes Schweigen.
    Am Ende dieses Schultags ging Liesel mit Rudi und den anderen Steiner-Kindern nach Hause. Als sie schon fast die Himmelstraße erreicht hatten, wurde Liesel von einer Welle aus Elend überwältigt, begleitet von unzähligen fliegenden Gedanken. Die gescheiterte Rezitation des
    Handbuchs für Totengräber, die Trümmer ihrer Familie, ihre Albträume, die Demütigung

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