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Die Burg der Könige

Die Burg der Könige

Titel: Die Burg der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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dazwischengekommen. Die Heiratspläne ihres Vaters, die vielen Krankenbesuche und vor allem die Schäferstündchen mit Mathis – all das hatte sie die Chronik zeitweise vergessen lassen.
    Aufgeregt erhob sie sich von ihrer Bettstatt und blies in die noch heiße Asche der Glutpfanne, die in einer Ecke der Kemenate stand. Schon bald züngelten kleine Flammen daraus hervor. Wenig später hatte sie daran eine Kerze entzündet und verließ die Kammer. Draußen im Gang war es merklich kühler, obwohl es auf Juni zuging. Agnes legte sich eine Wolldecke über die Schultern und machte sich mit der Kerze in der Hand auf den Weg hinüber in den Turmanbau, wo sich im dritten Stock die Bibliothek befand.
    Zunächst stieg sie über eine schmale gewundene Treppe hinunter in den Rittersaal. Durch die spitzen Fensterbogen leuchtete der Mond, draußen auf den Spitzen der Bäume zeigte sich bereits ein erstes zartes Grau. Agnes vermutete, dass es etwa vier Uhr morgens war. Der Saal selbst lag noch in völliger Dunkelheit. So leer und verlassen wirkte er noch unheimlicher als tagsüber. Die ausgestopften Eberköpfe an den Wänden schienen sie mit bösen Augen anzufunkeln, die löchrigen Gobelins flatterten im Zugwind, vom Feuer im Kamin war nur noch ein schwaches Glühen übrig.
    Barfuß und mit kalten Zehen eilte Agnes durch den Saal und betrat eine weitere Wendeltreppe, die sie hinauf in den Burgturm führte. Auf einmal hielt sie erschrocken inne.
    Von irgendwoher schien ein leises Wimmern zu kommen.
    Agnes’ Herz machte einen Sprung. Dieses Wimmern klang beinahe so wie das Wimmern des Kindes aus ihrem Traum! Als sie noch einmal genauer hinhörte, veränderte sich das Geräusch. Es klang nun tiefer, wie das Weinen einer Frau.
    Und es kam von irgendwo unter ihr, gefolgt von einem monotonen Klopfen.
    Poch, poch, poch …
    Eine fast tierische Angst packte Agnes. Sie stolperte die ausgetretenen Stufen nach oben, bis vor ihr endlich der Treppenabsatz des dritten Stocks auftauchte. Durch den Vorraum rannte sie auf die Tür der Bibliothek zu und drückte die Klinke.
    Sie war abgesperrt.
    Poch, poch, poch …
    Verzweifelt rüttelte sie daran und verfluchte ihre eigene Dummheit. Natürlich hatte Pater Tristan die Bibliothek abgeschlossen. Wie hatte sie nur annehmen können, dass sie mitten in der Nacht offen stand! Plötzlich fiel ihr ein, dass der alte Mönch den Schlüssel oft in eine leere Weinkaraffe auf einem Sims im Vorraum steckte. Sie nestelte mit den Fingern in dem Krug, und tatsächlich, da war er! Keuchend steckte sie den langen rostigen Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und betrat die Bibliothek.
    Der vertraute Duft der Pergamente wirkte auf Agnes augenblicklich beruhigend. Die Angst fiel von ihr ab, und nur kurze Zeit später kam ihr der Spuk nur noch lächerlich vor. Als sie den wachsverkrusteten Kerzenleuchter auf dem Tisch entzündete und warmes Licht die Bibliothek füllte, musste sie beinahe über sich selber schmunzeln. Wie hatte sie sich nur so ins Bockshorn jagen lassen können! Sicher war das Wimmern nichts weiter als der Wind gewesen, der durch die Steinritzen pfiff, und auch das Pochen hatte eine natürliche Erklärung. Fast hätte sie vergessen, warum sie eigentlich hier war.
    Noch immer hatte sie keine Ahnung, wer die Frau sein konnte, durch deren Augen sie ihre Träume erlebte. Auch wer die Männer waren, die ihr offensichtlich nach dem Leben trachteten, blieb ihr ein Rätsel. Wenigstens glaubte sie nun zu wissen, dass Johann und diese Frau ein gemeinsames Kind hatten, einen Knaben von etwa vier Jahren. Oder war der Junge gar nicht ihr Sohn?
    Zielsicher ging Agnes hinüber zu dem Regal mit dem falschen Buchrücken von Dantes Inferno. Sie zog daran, und die kleine Geheimtür öffnete sich. Zwar war es dahinter stockfinster, doch nach einer Weile hatte sie aus den übrigen Büchern die »Historia Trifels« herausgefischt.
    Sie setzte sich an den alten, mit Pergamenten übersäten Tisch und fing an, in der Chronik zu blättern, bis sie schließlich wieder zu dem Kapitel über Johanns Ritterschlag kam. Sie überflog noch einmal die Seiten, die sie das letzte Mal gelesen hatte, besah sich erneut das verblasste Bild vom Rittersaal, dann blätterte sie um – und stutzte.
    Die darauffolgenden Seiten waren herausgerissen worden.
    Agnes fuhr über die unregelmäßigen, zerfetzten Ränder. Es gab keinen Zweifel. Drei Seiten fehlten. Das Kapitel hörte auf mit der Schwertleite Johann von Braunschweigs im ausgehenden

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