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Die Burg der Könige

Die Burg der Könige

Titel: Die Burg der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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Ende der Burg. Schroff fällt der Fels hier in die Tiefe, bestimmt vierzig Schritt tief. Unter ihnen ist nichts zu sehen als wabern­de Dunkelheit.
    Erst jetzt bemerkt Agnes, dass sich auf Johanns Rücken eine Art Lederbeutel befindet. Der Sack ist oben offen, er bewegt sich leicht. Plötzlich taucht aus der Öffnung ein blonder Schopf auf, ein kleiner Kopf wendet sich zu ihr um, und zwei große verheulte Augen starren sie an.
    In dem Rucksack sitzt ein etwa vierjähriger Bub, der vor Angst zittert.
    Ohne zu wissen, warum, legt sie den Finger an die Lippen. Der Junge, der eben wieder zu weinen anfangen wollte, schweigt. Aus einer weiteren Umhängetasche holt Johann währenddessen ein Seil hervor, das er an einem vorstehen den Zimmermannsnagel anbindet. Es fällt lautlos in die Tiefe.
    Nun spürt Agnes, dass auch sie eine Tasche trägt. Sie ist nicht besonders schwer. Als sie hineintastet, stößt sie auf einen etwa unterarmlangen in ein Tuch eingeschlagenen Gegenstand. Er fühlt sich hart und kantig an. Als sie wieder zu Johann hinüberschaut, hat sich dieser schon am Seil in die Tiefe gelassen. Nur noch der Schopf des Kindes ist zu sehen, eine bleierne, angespannte Stille liegt in der Luft.
    Plötzlich ertönt ein hässliches Geräusch von unten aus der Felswand. Steine poltern, das Kind verschwindet aus Agnes’ Blickfeld, ein unterdrückter Schmerzensschrei Johanns folgt. Offenbar ist er auf dem glatten Fels abgerutscht.
    Und dann beginnt das Kind zu weinen.
    Es ist ein Jammern und Schreien, ein Heulen in höchster Todesangst, das Agnes durch Mark und Bein dringt. Es scheint die Felswände hinaufzuklettern, über die Mauern der Burg zu kriechen und in den Fenstern zu versickern. Nur kurze Zeit später sind Alarmrufe zu hören, Schritte kommen schnell ­näher.
    Agnes schultert die schwere Tasche, läuft auf das Seil zu und lässt sich daran hinabgleiten. Die Hände brennen wie Feuer, es tut so weh, dass sie beinahe loslassen möchte. Die Felswand schrappt an ihrer Schulter und zerreißt ihr das Kleid, weiter unten kann sie jetzt einen schwarzen schwan­kenden Klumpen erkennen, es ist Johann mit dem Jungen. Auch er scheint an dem Seil mehr hinabzufallen als daran ­hinunterzuklettern. Der Waldboden kann nicht mehr weit sein.
    Als Agnes schon Hoffnung schöpfen will, zischt etwas nur um Haaresbreite an ihrem Gesicht vorbei. Es ist ein Armbrustbolzen. Ein zweiter bleibt in ihrem wehenden Rock stecken. Dann beginnt das Seil zu vibrieren, Agnes schaukelt leicht hin und her, plötzlich gibt es einen Ruck, und sie stürzt zwei, drei Schritt in die Tiefe. Das Schaukeln wird stärker.
    Das Seil, sie schneiden das Seil durch! Faser für Faser!
    Von oben sind jetzt Rufe zu hören, ein weiterer Bolzen fliegt nur knapp an ihr vorbei. Wie weit mag es noch bis zum Grund sein? Fünfzehn Schritt? Zehn Schritt? Jedenfalls zu weit, um zu springen.
    In diesem Augenblick gibt es einen erneuten Ruck, dann rauscht Agnes in die Tiefe. Der Boden kommt näher und näher, wie ein geöffnetes Maul, wie ein zahnloser, gigantischer Rachen.
    Und verschluckt sie.
    Als Agnes diesmal mitten in der Nacht aufwachte, wusste sie sofort, wo sie sich befand und was geschehen war. Heftig atmend schloss sie die Augen und versuchte sich jeden einzelnen Anblick einzuprägen. Nichts wollte sie bis morgen früh wieder vergessen haben. Johann war eindeutig auf der Flucht gewesen, und er hatte einen kleinen blonden Buben dabei­gehabt. Als der Junge vor Angst schrie, hatte Agnes kurz geglaubt, es wäre ihr eigenes Kind. War sie im Traum etwa die Mutter dieses Jungen? War Johann der Vater? Und warum hatten sie überhaupt gemeinsam vom Trifels fliehen müssen?
    Agnes dachte an das Gespräch der Männer im Rittersaal, von dem sie vor einigen Wochen geträumt hatte. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Die Warnung vor dem Ring, das belauschte Gespräch, die Flucht … Die einzelnen Träume schienen zusammenzuhängen! Sie erzählten eine längere Geschichte, deren Sinn sie sich allerdings nicht erschließen konnte. Bislang hatte sie nur erfahren, wer der Mann war, den sie im Traum so abgöttisch liebte. Sein Name hatte in der Trifelser Chronik gestanden.
    Agnes zuckte zusammen. Plötzlich fiel ihr ein, wo sie eine Erklärung für all diese Visionen finden konnte. In der Chronik! Sie hatte sie damals zurück in das Geheimfach der Bi­bliothek gestellt. Mehrmals hatte sie seitdem daran gedacht, sie wieder heimlich hervorzuholen, doch jedes Mal war etwas

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