Die Burg der Könige
Schweiß auf der Stirn, während er den Kahn mal mehr nach rechts, dann wieder nach links steuerte, um den gefährlichen Stromschnellen und der Sandbank zu entgehen. Agnes stockte der Atem. Schnell und reißend wand sich der Fluss durch das tiefe Felsmassiv, an seinen Ufern griffen Schatten wie mit langen Fingern nach dem Schiff, das gleich einer Nussschale durch die zahlreichen Strömungen trudelte.
»Vielleicht hätte ich doch ein wenig lauter beten sollen«, sagte Mathis und hielt sich krampfhaft an der Reling fest. Sein Gesicht war bleich, offenbar schien er das Bootfahren nicht recht zu vertragen. Wieder trieben Bäume und abgetrenntes Buschwerk an ihnen vorbei und verschwanden in den blubbernden Strudeln.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließen sie den Loreleyfelsen hinter sich, die Sonne kam zurück, und der Rhein floss wieder träge dahin. Es war auf einmal so friedlich, dass Agnes die letzten Minuten wie ein Spuk vorkamen. Grüne Weinstöcke breiteten sich auf den Terrassen des Flusstals aus, auf der rechten Seite kam ein schmuckes Städtchen in Sicht, das von einer kleineren Burg überragt wurde. Auch links war eine Stadt zu sehen, deren Mittelpunkt eine rot-weiß getünchte Kirche bildete. Über dem Ort erhob sich eine mächtige, von Festungsmauern umzäunte Burg, auf deren frisch verputzten Zinnen bunte Fahnen flatterten. Es war die prächtigste Burg, die Agnes je gesehen hatte. Der Trifels wirkte dagegen wie ein grober Klotz.
»Ah, Sankt Goar!«, sagte Melchior erleichtert. »Wir haben unser Ziel also tatsächlich erreicht.«
Agnes sah ihn verdutzt an. »Diese Burg dort ist Sankt Goar?«
Melchior lachte. »Nein, nein! Das ist die Burg Rheinfels, die sich im Besitz des hessischen Landgrafen befindet, die größte Burg am Rhein. Ich war einmal einige Wochen hier, um den Grafen mit meinem Spiel zu erfreuen. Sankt Goar ist die Stadt mit der Kirche darunter.«
»Aber ich dachte immer, wir suchen ein Kloster und nicht …«
Agnes stockte, als sie noch einmal zur Kirche in der Mitte des Ortes sah. Erst jetzt erkannte sie, dass sich nach Norden und Süden weitere Gebäude anschlossen, die offenbar zu einem größeren Klosterkomplex gehörten.
»Was Ihr dort seht, ist das berühmte Chorherrenstift Sankt Goar. Es gehört der mächtigen Benediktinerabtei Prüm«, erklärte Melchior. »Der hessische Landgraf war immer sehr erbost, weil ihm die Chorherren keine Abgaben zahlen. Seit Jahrhunderten sind die Pater allein dem Kaiser unterstellt und verfügen über sehr viel Einfluss.«
Agnes musterte nachdenklich die schmucke Kirche. Nach all den Monaten der Entbehrung war sie nun endlich an den Ort gelangt, von dem sie sich Erlösung erhoffte. Aber anders als erwartet stellte sich keine rechte Freude ein.
»Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich … ich hatte ein einsames Kloster erwartet, vielleicht auf einer Bergspitze oder in einem tiefen, schattigen Tal. Ein rätselhaftes Gemäuer voller Geheimnisse, ähnlich wie der Trifels. Aber das hier ist nichts weiter als eine Stadtkirche.« Sie wandte sich an Melchior. »Seid Ihr sicher, dass dies das richtige Sankt Goar ist? Vielleicht meinte Pater Tristan ja ein anderes.«
Der Barde zuckte mit den Schultern. »Es ist jedenfalls das einzige Sankt Goar, das ich kenne. Außerdem tut Ihr der Kirche unrecht. Hier werden die Gebeine des heiligen Goar verwahrt. Die Pilger kommen von weit her, um seinen Sarg zu berühren.«
»So oder so sollten wir uns die Kirche ansehen«, meldete sich nun Mathis, der mittlerweile wieder etwas Farbe im Gesicht hatte. »Es sieht ganz so aus, als müssten wir hier ohnehin etwas länger bleiben.« Er deutete auf den Rhein, über den sich nun eine schwere Kette spannte, die die Bootsleute dazu zwang, in den kleinen Flusshafen unterhalb der Burg einzuschwenken. »Außerdem bin ich nicht mehrere hundert Meilen gereist, um jetzt einfach wieder umzukehren. Zumal ich ohnehin nicht weiß, wo ich hingehen sollte«, fügte er nach einer Pause leise hinzu.
»Ihr habt recht.« Agnes nickte entschlossen. »Verzeiht. Ich bin wohl nur ein wenig durcheinander. Ich kann euch gar nicht genug dafür danken, dass ihr diesen langen Weg mit mir gegangen seid.«
Ächzend legte der Kahn an der Hafenmole an, und die Mannschaft begann ihn geschwind zu vertäuen und einige der Weinfässer abzuladen. Mit säuerlichem Gesicht bezahlte der Kapitän die Maut, die auch hier für jedes vorbeifahrende Schiff fällig wurde. Erst wenn die Abgabe geleistet war,
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