Die Burg der Könige
Nächten mit Barnabas erzählt, doch er schien zu spüren, dass etwas tief in ihr verletzt war, das nur langsam wieder heilte. Seit ihrer Flucht aus dem Heerlager hatte er sie ein paarmal geküsst und auch umarmt, doch als er merkte, wie sie innerlich erstarrte, hatte er seine sachten Versuche schnell eingestellt. Es würde noch viel Zeit brauchen, bis sie sich Männern wieder vertrauensvoll nähern konnte. Vielleicht kam dieses Gefühl auch nie mehr wieder. Die Erinnerung an das, was Barnabas ihr angetan hatte, war einfach zu grauenhaft.
Allein dafür hatte das Schwein den Tod verdient , dachte sie düster.
Sachte strich Agnes über die verkratzten Gravuren des Siegelrings, den sie mittlerweile wieder an ihren Finger gesteckt hatte. Zum hundertsten Mal zeichnete sie die Linien nach, die das Porträt eines bärtigen Königs bildeten. Wie viel Blut war wegen dieses Rings bereits vergossen worden! Er war wie ein Fluch und ein Segen zugleich. Agnes nickte entschlossen. Es war wirklich an der Zeit, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren.
Über seine und auch über meine Vergangenheit …
Plötzlich erklangen drei helle Glockenschläge von der Heckseite her, und die Bootsleute fielen auf die Knie und fingen laut an zu beten. Agnes schreckte aus ihren Gedanken auf.
»Was haben die Männer?«, fragte sie verunsichert Melchior von Tanningen. »Ist etwa ein Unglück geschehen?«
»Sie beten, damit eben keines geschieht«, erwiderte der Barde und deutete auf einen hoch aufragenden Schieferfelsen, der auf der rechten Seite in den Rhein hineinragte und dem sie sich nun langsam näherten. »Dieser Fels heißt bei den Menschen der Gegend ›Loreley‹. Hier verengt sich der Rhein, und es gibt etliche Strudel und Strömungen. Die gefährlichste Stelle, das Gewerre, befindet sich direkt vor uns. Schon viele Fährleute und Reisende sind von diesen Strudeln in den Abgrund gezogen worden.« Mit einer leichten Kopfbewegung wies Melchior auf die Bootsleute, die sie während des Betens argwöhnisch zu mustern schienen. »Man erwartet wohl, dass auch wir beten. Also tun wir ihnen den Gefallen.«
»Schaden kann es jedenfalls nicht«, sagte Agnes und kniete nieder. Mathis und Melchior taten es ihr nach einigem Zögern gleich.
Der Fels zog an ihnen vorüber, während gleichzeitig ein mächtiges Rauschen ertönte, das von überall her zugleich zu kommen schien. Unsicher blickte Mathis hinauf zu den steilen Hängen, von denen immer wieder polternd kleine Steine herabfielen.
»Keine Angst«, beruhigte ihn Melchior. »Das ist nur der Galgenbachwasserfall, dessen vielfaches Echo Ihr hört. Die Einheimischen glauben allerdings, es wären Zwerge, die in ihren Höhlen hausen und nach Gold graben.« Er seufzte. »Ich denke schon lange daran, eine hübsche Ballade über diese Gegend zu schreiben. Vielleicht irgendetwas mit einer Nixe oder einer männermordenden Zauberin …«
Eine Erschütterung durchlief plötzlich den Kahn, und die drei Reisenden hielten sich überrascht an den festgezurrten Weinfässern fest, um nicht hinzufallen. Auch die Bootsleute brachen ihr Gebet ab und liefen schreiend hinüber zum Bug. Agnes sah einen gewaltigen toten Baum direkt am Kahn vorbeitreiben. Es war eine über zehn Schritt lange Eiche, in deren Krone sich etliches Treibgut verfangen hatte. Schnarrend ratschte der Stamm an der Backbordseite entlang, doch die Bootswand hielt.
Als Agnes noch einmal in die Fluten starrte, erhaschte sie einen Blick auf zwei Wasserleichen, die sich zwischen den Ästen verfangen hatten. Eine von ihnen zog einen zerfaserten Strick hinter sich her. Beide Körper waren so aufgedunsen, dass sie kaum noch Menschen, sondern eher aufgequollenen Mehlsäcken glichen. Ihrer zerfetzten Kleidung nach handelte es sich um einfache Bauern.
»Arme Teufel«, murmelte Mathis. »Vermutlich hat man sie zur Mahnung aller Flussreisenden ganz nah am Rhein aufgehängt. Und dann hat ein Sturm sie ins Wasser gespült.«
»Wo sie beinahe noch ein paar weitere Sterbliche in den Abgrund gerissen hätten«, erwiderte Agnes leise. »Gott sei ihrer Seele gnädig.« Sie schlug ein Kreuz, während die Eiche mit ihrer grausigen Fracht langsam außer Sichtweite dümpelte.
Das Rauschen des Wasserfalls wurde jetzt schwächer, dafür zeigten sich auf der Oberfläche des Rheins immer öfter Strudel, die von einer weißflockigen Gischt umgeben waren; eine Sandbank tauchte aus dem Wasser auf wie der Rücken eines riesigen Fisches. Dem Bootsmann am Heck stand der
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