Die Burg der Könige
senkte sich die Kette wieder in den Rhein. Agnes, Mathis und Melchior verabschiedeten sich und schlenderten den Pier entlang, der zu einem der Stadttore führte.
Wie viele andere Orte im Rheintal war Sankt Goar wie ein schmaler Schlauch, der zwischen dem Fluss und den Steilhängen eingezwängt lag. Eine hohe, von Wehrtürmen gesäumte Festungsmauer schützte die Stadt vor möglichen Angriffen. Die drei Reisenden passierten das Hafentor und näherten sich schon bald dem Stift in der Mitte des Ortes. Gekleidet in farbenfrohes Tuch, flanierten Bürger lachend und parlierend durch die gepflasterten Gassen. Eine kleinere Burg jenseits der Kirche diente offenbar als Sitz des Stadtvogts. All die schmucken bunten Fachwerkhäuser, die verputzte Stadtmauer und die gutbesuchten Tavernen machten auf Agnes einen wohlhabenden Eindruck, offenbar verdiente die Stadt durch die Mauteinnahmen nicht schlecht. Plötzlich musste sie an das schmutzige Nest Annweiler zu Hause denken.
Ob unsere Stadt auch einmal so ausgesehen hat? Damals, zur Zeit der Staufer?
»Der Schwarze Hans mag ein Raubritter gewesen sein«, murrte Mathis. »Aber diese Flussherren sind um keinen Deut besser. Knöpfen den Reisenden das letzte bisschen Geld ab und kleiden sich selbst in Sammet und Barchent.«
»Ich hätte auch nichts einzuwenden gegen ein Kleid aus Seide«, entgegnete Agnes. Sie seufzte und blickte an ihrem einfachen Mantel hinunter. »So ein feiner Stoff trägt sich jedenfalls weitaus angenehmer als diese groben, staubigen Männerkleider.«
Mathis grinste. »Jetzt weißt du mal, was wir armen Mannsbilder jeden Tag erleiden müssen.«
In der Zwischenzeit hatten sie den Marktplatz vor der Stiftskirche erreicht. Zur Rechten befand sich das schmucke Rathaus, eine Linde stand in der Mitte des Platzes, daneben ein leerer, mit Dreck und faulem Obst besprenkelter Pranger. Erst jetzt, da sie direkt davorstand, merkte Agnes, wie groß der Klosterkomplex war. Von der Kirche aus führten sowohl links wie rechts überdachte Kreuzgänge zu den benachbarten Gebäuden, von denen eines wohl die Abtei war. An den Fassaden des Stifts erhoben sich Gerüste, die zeigten, dass dort zurzeit gebaut wurde. Handwerker standen auf Leitern und versahen die Wände mit frischer Farbe, weiter hinten trugen zwei Mönche einen Kranken auf einer Bahre in eines der Häuser.
»Das Pilgerhospital von Sankt Goar ist am ganzen Rhein bekannt«, bemerkte Melchior, während sein Blick anerkennend über die einzelnen Gebäude schweifte. »Offenbar wird hier immer noch erweitert. Das Kirchenschiff erscheint mir jedenfalls ziemlich neu. Ein interessanter Bau, so hoch und hell. Ich kenne eine Kirche in Rom, die …«
»Schön für Euch«, unterbrach ihn Mathis. »Aber wir sind nicht hier, um Kirchen zu bewundern, sondern um einem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Also lasst uns schleunigst hineingehen und sehen, wer uns weiterhelfen kann.« Er schlenderte über den Marktplatz und öffnete das niedrige Eingangsportal, das quietschend nach innen schwang.
Agnes fröstelte, als sie die Kirche betrat. Nach der Hitze des Tages war es hier drin überraschend kühl. Durch die kostbaren bunten Glasfenster fiel nur wenig Licht, so dass das Hauptschiff der Kirche in eine fast unheimlich anmutende Dämmerung getaucht war. Eine frischverputzte Empore verlief in etwa vier Schritt Höhe, die Decke war von Streben durchzogen und kunstvoll mit den Darstellungen verschiedener Heiliger bemalt. Vor der Apsis im Osten führte eine Treppe in die Tiefe, von dorther war ein regelmäßiges Schaben zu hören. Als die drei sich den Stufen näherten, konnten sie eine von Säulen getragene Krypta erkennen, in deren Mitte ein Sarkophag auf einem Sockel stand. Ein alter Mönch in einfacher Kutte der Benediktiner kehrte davor den Boden.
»Die Grabstätte Sankt Goars«, flüsterte Melchior von Tanningen. »Ein überaus heiliger Ort, den wir nicht versäumen sollten. Lasst uns einen kurzen Blick darauf werfen.« Er winkte den anderen, ihm zu folgen. Dann stieg er die wenigen Stufen hinab und räusperte sich, als er vor dem Mönch stand.
»Dominus vobiscum« , murmelte der Greis, ohne mit dem Kehren aufzuhören. Er hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
»Et cum spiritu tuo« , antwortete Melchior. »Guter Mann, verzeiht die Störung. Wir haben eine weite Reise gemacht, um diese Stätte aufzusuchen.«
Zum ersten Mal hielt der Mönch mit dem Kehren inne und blickte auf. Unter der Kapuze leuchteten zwei freundliche,
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