Die Burg der Könige
kluge Augen, die in dem von Falten zerfurchten Gesicht fast ein wenig zu jung wirkten. Am auffälligsten waren seine buschigen Brauen, die im Dämmerlicht zwei lebendigen haarigen Raupen glichen. Er lächelte milde.
»Dann habt Ihr Glück gehabt«, erwiderte der Mönch. »Eigentlich ist die Krypta heute geschlossen, weil wir sie für die Festlichkeiten zum Tag des heiligen Goar vorbereiten.« Er seufzte. »Aber ich habe wohl mal wieder vergessen, die Kirche abzusperren. Nun, da Ihr schon mal da seid …« Einladend wies er auf das Hochgrab, das von einer schweren Steinplatte gekrönt war. »Erweist dem Heiligen die nötige Ehrerbietung. Es wird ja hoffentlich nicht allzu lange dauern.«
Agnes betrachtete die Platte, auf der sich als Relief die steinerne Figur eines Mönchs abhob.
»Ist das der heilige Goar?«, wollte sie wissen.
Der Alte nickte. »Er kam in diese Gegend, als die Römer sich langsam vor dem Ansturm anderer Völker zurückzogen. Viele Schiffe auf dem Rhein soll er vor dem Untergang bewahrt haben. Außerdem brachte der Heilige aus seiner Heimat Aquitanien die Weinreben mit in die Pfalz.« Er lächelte verschmitzt. »Nicht die geringste seiner Wohltaten, auch wenn Goar selbst ein Eremit war, der wohl eher das klare Rheinwasser bevorzugte. Hier in der Krypta befand sich seine ehemalige Höhle. Als er starb, bauten seine Nachfolger darüber eine kleine Kirche, später eine größere, und …«
»Verzeiht, Pater.« Neben Agnes räusperte sich Mathis. »Das ist alles sehr interessant. Aber eigentlich suchen wir nur jemanden, der uns in einer überaus wichtigen Angelegenheit weiterhelfen kann.«
»Es wäre tatsächlich hilfreich, den Vorsteher dieses Stifts zu sprechen«, pflichtete ihm Melchior bei. »Ihr wisst nicht zufällig, wo wir den Dekan finden?«
»Den Dekan?« Der alte Mönch zog seine buschigen Augenbrauen in die Höhe. »Und warum sucht ihr ihn, wenn ich fragen darf?«
»Wir sind einen weiten Weg gekommen, Pater«, mischte sich nun Agnes ein. »Mein ehemaliger Beichtvater hat mir erzählt, dass ich hier in Sankt Goar vielleicht Antwort auf eine Frage bekomme, die mich schon lange quält.«
Der Mönch lachte leise. »Viele suchen Antworten auf ihre Fragen«, sagte er schließlich. »Und dabei lautet die eine wahre Antwort doch immer wieder gleich: Gott. Dafür hättet ihr nicht nach Sankt Goar kommen müssen.«
Unruhig trat Mathis von einem Bein auf das andere. »Hört, Pater. Das ist jetzt nicht die Zeit für Wortklaubereien. Diese Dame ist die Gräfin von Scharfeneck, und wir beide begleiten sie auf einer langen, mühevollen Suche, die uns bis hierher nach Sankt Goar geführt hat.« Er deutete auf Melchior und sich selbst. »Melchior von Tanningen ist ein fahrender Ritter, und ich bin ein einfacher Waffenschmied. Gemeinsam kommen wir von der Pfälzer Burg Trifels, die weit im Süden liegt, und …«
Plötzlich verengten sich die Augen des Greises zu schmalen Schlitzen. »Vom Trifels?«, fragte er argwöhnisch. »Hat Euch etwa jener fremdartige Mann geschickt? Wenn ja, dann war Euer Weg vergebens. Ich habe meine Meinung nicht geändert.«
»Welcher … welcher fremdartige Mann?«, wollte Agnes wissen. »Wollte er etwa auch etwas über den Trifels wissen? Bitte, sprecht!«
Doch der Alte schwieg und kehrte weiter den Boden rund um den Altar.
»Gütiger Vater«, versuchte es nun Melchior von Tanningen. »Diese Angelegenheit ist wirklich von großer Wichtigkeit …«
»Das hat der Mann auch gesagt. Und ich sage weiterhin: Nein.«
»Jetzt reicht es mir aber!«, schimpfte Mathis plötzlich so laut, dass es in der verlassenen Krypta von den Wänden widerhallte. »Wir haben so viele Gefahren überstanden und Kämpfe ausgefochten, wir sind durch ein zerstörtes Land gewandert und mehrmals beinahe umgekommen, nur um an diesen verlassenen Ort zu gelangen. Und Ihr steht da und schweigt wie ein Ochse. Sagt uns jetzt endlich, wo der Dekan ist! Dann soll der entscheiden, was gesagt werden darf und was nicht. Und nun redet, sonst …«
Er schritt drohend auf den Mönch zu, doch Agnes hielt ihn zurück. »Nicht, Mathis!«, rief sie. »Du versündigst dich.«
Ohne weiter darüber nachzudenken, fiel sie vor dem alten Mann auf die Knie und faltete die Hände wie zum Gebet.
»Ich bitte Euch, Pater«, flehte sie. »Bei allen Heiligen, ich schwöre, wir kommen in guter Absicht. Alles, was wir wollen, ist …«
Agnes stockte, als sie sah, wie die Augen des Alten unvermittelt auf ihre Hände
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