Die Burg der Könige
Schlossacker entlang, als wäre der Teufel hinter ihm her. Noch immer hallte Agnes die Stimme von Martin von Heidelsheim in den Ohren.
Äste und Zweige griffen wie gierige Finger nach ihr, als sie in den Wald eintauchten. Agnes beugte sich dicht über Taramis und roch den herben Schweiß, den sein Fell verströmte. Es war dieser Geruch, der sie nach und nach beruhigte. Allmählich passte sie sich den gleichmäßigen Bewegungen des Pferdes an, ließ sich von ihm tragen. Sie ritten entlang des schmalen Bergrückens, an dessen nördlichster Stelle sich der Trifels befand, vorbei an der uralten Burgruine Anebos, von der nur noch einige Mauerreste standen, entlang turmhoher Sandsteinfelsen und schließlich hinüber nach Burg Scharfenberg, einer weiteren verlassenen Festung, nur wenige Bogenschussweiten vom Trifels entfernt. Erst hier drosselte Agnes ihr Tempo, denn der Pfad war schlüpfrig und steil, und sie wollte Taramis nicht unnötig in Gefahr bringen.
Agnes blickte hinauf zur Burg Scharfenberg, die sich in einem noch schlechteren Zustand befand als der Trifels. Wie viele andere Burgen der Gegend war sie einst zu dessen Schutz erbaut worden, doch ihr letzter Vogt war vor etlichen Jahren gestorben, und der Herzog hatte keinen neuen berufen. Seitdem verfiel die Burg zunehmend, Bauern hatten bereits angefangen, Teile der äußeren Mauer als Steinbruch zu benutzen, und die zugigen Fensterlöcher glotzten hohl und schwarz hinab ins Tal. Drohte dem Trifels schon bald das gleiche Schicksal? Plötzlich kam Agnes ihr stolzer Spruch von der »Herrin vom Trifels« nur noch lächerlich vor. Wenn überhaupt, war sie die Herrin über ein längst untergegangenes Reich.
Herrin vom Trifels … Herrin über ein paar Hungerleider und eine Ruine, mehr nicht.
Abrupt riss sie Taramis an den Zügeln und ritt den Weg wieder zurück, bis sie zu der Abzweigung kam, die hinunter ins Tal führte. Als Agnes schließlich die sumpfigen Auen jenseits des Sonnenbergs erreicht hatte, ging ihr Atem wieder einigermaßen gleichmäßig. Auf der schlammigen Straße, die über einige gerodete Hügel hinweg nach Rinnthal führte, ließ sie Taramis in einen gemächlichen Trab fallen. Gelegentlich kamen ihr Fuhrwerke oder andere Reiter entgegen, aber sie beachtete sie kaum. Die Lippen zu schmalen Strichen zusammengepresst, versuchte sie ihre gegenwärtige Lage einzuschätzen. Heidelsheim hatte damit gedroht, Mathis’ Diebstahl ihrem Vater zu verraten, und nach allem, was zwischen ihr und dem Kämmerer vorgefallen war, war Agnes sicher, dass er dieses Vorhaben auch in die Tat umsetzen würde. Sollte sie sich also mit Heidelsheim arrangieren, sich bei ihm entschuldigen, nur um das Unvermeidliche ein wenig länger hinauszuzögern? Denn eines war so unumstößlich wie nur selten etwas in ihrem Leben: Niemals würde sie den Kämmerer heiraten! Lieber ging sie mit Mathis zu den Vagabunden in die Wälder.
Agnes atmete tief durch und ließ Taramis langsam austraben, während hinter einer Anhöhe bereits die ersten Bauernhäuser vor der Stadt auftauchten. In solchen Momenten wünschte sie sich von ganzem Herzen, noch eine Mutter zu haben. Katharina von Erfenstein war an einem schweren Fieber gestorben, als Agnes gerade erst fünf Jahre alt war. Die Erinnerungen an sie waren so verschwommen, dass Agnes in ihren Träumen oft nur ein leuchtendes, konturloses Gesicht vor sich sah, das sich mit leiser, beruhigender Stimme über sie beugte. So waren es bloß noch Melodien und bestimmte Gerüche, die sie mit ihrer Mutter verband. Der süße Geschmack von Milch mit Honig, ein zarter Veilchenduft, ein altes okzitanisches Schlaflied …
Coindeta sui, si cum n’ai greu cossire, quar pauca son, iuvenete e tosa …
Warum ihre Mutter ihr ausgerechnet ein okzitanisches Lied vorgesungen hatte, konnte Agnes sich nicht erklären. Auch ihr Vater hatte trotz mehrmaliger Nachfragen keine Erklärung dafür gewusst. Später hatte Agnes das Lied unter einigen alten Balladen in der Trifelser Bibliothek wiedergefunden. Es war schön und traurig zugleich, und ihr Vater meinte, genau so sei ihre Mutter einst gewesen – schön und traurig. Während sie mit Taramis in einen schmalen Feldweg einbog, summte Agnes die altertümliche Melodie.
Ich bin hübsch, und doch hab ich großen Kummer. Weil ich klein bin, ein junges Ding und Mädchen …
Überhaupt war ihr Vater äußerst einsilbig, wenn es um Agnes’ Mutter ging. Der Schmerz über ihren Verlust saß noch immer tief, so sehr, dass
Weitere Kostenlose Bücher