Die Burg der Könige
er bis zum heutigen Tag keine andere Frau genommen hatte. Sehr zum Leidwesen von Agnes, die sich von Zeit zu Zeit gerne an einer mütterlichen Schulter ausgeweint hätte. Ihr Vater, ihre Zofe Margarethe, ja selbst die dicke Köchin Hedwig, sie alle waren kein Ersatz für eine Mutter, und sei es nur eine liebevolle Stiefmutter, der sie ihre Sorgen hätte anvertrauen können.
Mittlerweile war Agnes wieder im Wald und auf dem Weg zurück zur Burg. Sie schwitzte, ihr Atem ging schnell, und die Glieder taten ihr vom Reiten weh, doch wenigstens fühlte sie sich jetzt ein wenig besser. Die tiefhängenden Äste streichelten ihr über das Haar, ganz sanft, als wollten sie sie trösten. Gerade wollte sie Taramis zu einem letzten Galopp antreiben, als sie ein leises, kaum hörbares Geräusch plötzlich innehalten ließ.
Da war es ein weiteres Mal zu vernehmen, diesmal ganz deutlich. Es kam aus den Baumwipfeln direkt über ihr.
»Pssst!«
Agnes blickte nach oben und sah auf einem der unteren Äste eine Gestalt, die ihr verstohlen zuwinkte. Es war Mathis.
Sie wollte bereits erfreut seinen Namen rufen, als ihr auffiel, wie erschöpft und abgekämpft er aussah. Sein Hemd war an den Ärmeln eingerissen, die Beinlinge über und über mit Mist bekleckert. Auch Mathis’ Haare starrten vor Dreck, und ein dicker Kratzer zog sich quer über seine Stirn.
»Mein Gott, Mathis! Was ist geschehen?«, rief Agnes und stieg hastig vom Pferd. »Brauchst du Hilfe?«
Anstatt einer Antwort hielt sich Mathis nur den Finger vor die Lippen.
»Bist du alleine?«, flüsterte er so leise, dass Agnes ihn kaum verstehen konnte. Als sie zögernd nickte, ließ er sich von dem Ast hinabgleiten. Gemeinsam gingen sie, während Agnes das Pferd am Zügel hinter sich herzog, ein Stück weg von der Straße, hinein in den Wald.
Erst nach einer Weile blieb Mathis stehen. Er ließ sich auf einen umgefallenen Buchenstamm sinken und raufte sich die rotblonden Haare.
»Ich sitze böse in der Patsche«, sagte er, immer noch sehr leise. »Der Annweiler Stadtvogt sucht mich.«
Agnes lächelte besänftigend. »Warum das? Weil du mal wieder nach Einbruch der Dunkelheit durch das Stadttor wolltest?«
»Unsinn, wenn es nur das wäre! Es ist viel schlimmer, Agnes. Ich hab dem Schäfer-Jockel bei der Flucht geholfen, und nun werd ich selbst als Aufrührer gesucht!«
Stockend berichtete Mathis Agnes von dem geheimen Treffen im »Grünen Baum«, vom Auftauchen des Stadtvogts und von der Flucht von Jockel und ihm. Als er endlich fertig war, sah er Agnes verzweifelt an. »Seit Stunden irre ich jetzt schon durch den Wald!«, brach es aus ihm heraus. »Agnes, ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll! Eins ist klar: Zurück zu meinen Eltern kann ich nicht. Wenn die Büttel mich finden, hängen sie mich am höchsten Baum auf! Und wenn der Stadtvogt einen schlechten Tag hat, baumelt meine ganze Familie gleich daneben.«
»Übertreibst du nicht ein wenig?«, fragte Agnes und streichelte ihm über die Schulter. Ein leichter wohliger Schauder durchfuhr sie.
Der Einzige , dachte sie.
»Das … das war doch nichts weiter als ein Dummejungenstreich«, fuhr sie schließlich fort. »Wenn’s hochkommt, musst du einen Tag am Pranger auf dem Marktplatz stehen. Das wirst du überleben.«
»Agnes, du hast die Augen des Stadtvogts nicht gesehen! Ich habe ihn vor dem halben Annweiler Rat blamiert, das wird er mir nie verzeihen!« Mathis sank in sich zusammen und barg den Kopf zwischen seinen kräftigen Händen. »Denk nur an den Jungen, den sie vor ein paar Tagen in Queichhambach gehenkt haben! Wahrscheinlich hat er nicht mehr getan, als mit Pfeil und Bogen durch die Wälder zu pirschen.« Er lachte verzweifelt auf. »Und du glaubst wirklich, der Stadtvogt lässt es mit einem Tag Pranger bewenden? Diese Welt ist so verflucht ungerecht! Die Großen prassen und feiern, und die Kleinen hungern und werden gehenkt. Wie kann Gott so etwas zulassen? Ich möchte nur wissen, welches Schwein unser Treffen an Gessler verraten hat! Dann, dann …« Er biss die Lippen aufeinander, trotzdem konnte Mathis nicht verhindern, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Agnes wusste nicht, ob er aus Zorn oder aus Angst weinte.
Eine Zeitlang war nur das gelegentliche Schnauben des Pferdes zu vernehmen. Schließlich fasste sich Agnes ein Herz.
»Wir müssen zu meinem Vater«, sagte sie knapp.
»Zu deinem Vater?« Mathis wischte die Tränen fort und sah sie entgeistert an. »Aber der wird mich ausliefern,
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