Die Burg der Könige
in neuem Licht.
Kurz darauf hatten sie das Dorf erreicht. Schlammverschmierte Kinder spielten mit Kieseln auf der einzigen Straße, auf der in Pfützen die Jauche stand. Die Kleinen waren barfuß und trugen nur zusammengeschnürte Fetzen am Leib, alle waren erschreckend mager, die Bäuche aufgebläht vor Hunger. Mit fahlen Augen, die tief im Gesicht lagen, blickten die Kinder den beiden Wanderern entgegen. Erst als sie den Mönch erkannten, brachen sie in verhaltene Jubelschreie aus.
»Pater Tristan, Pater Tristan!«, riefen sie immer wieder, während sie den alten Mann umtanzten. »Hast du uns wieder was mitgebracht?«
»Mag sein«, sagte Pater Tristan lächelnd. »Aber sorgt gefälligst dafür, dass jeder etwas davon abbekommt, ihr Bälger.«
Er zog ein paar runzlige Dörrzwetschgen vom letzten Herbst aus seinem Ranzen hervor und verteilte sie unter den schreienden Kindern, die sich die Süßigkeit auf der Stelle gierig in die Münder stopften. Als nichts mehr übrig war, wandte sich Pater Tristan mit Agnes nach links, wo etwas abseits der Straße eine kleine, schiefe Kate stand.
»Hier ist es«, sagte er und pochte sachte gegen die Tür. »Hoffen wir, dass es nicht schlimmer geworden ist.«
Eine verhärmte alte Frau öffnete ihnen. Als sie Pater Tristan erkannte, lächelte sie müde, und Agnes sah erschrocken, dass ihr fast alle Zähne fehlten. Ihr Haar war grau, die Haut von Falten durchzogen.
»Wo ist dein Sohn, Weib?«, fragte Pater Tristan. Erst durch die Worte des Mönchs wurde Agnes bewusst, dass es sich nicht um die Großmutter, sondern um die Mutter des Kindes handelte.
»Gott segne Euch, Pater!«, erwiderte die Frau erleichtert und winkte den Mönch herein. »Der Bub liegt dort hinten auf dem Boden. Er hat starkes Fieber.« Argwöhnisch sah sie zu Agnes hinüber. »Das ist doch …«, begann sie.
»Die Tochter des Burgvogts«, warf der Pater ein. »Ich weiß. Sie möchte sich nützlich machen.«
»Nützlich machen?« Das Weib lachte hämisch. »Wie kann sich so eine schon nützlich machen?«
Plötzlich beschlich Agnes die böse Ahnung, dass Pater Tristan sie nicht nur deshalb mitgenommen hatte, um ihr mehr über den Trifels zu erzählen. Sie starrte in die düstere Bauernstube, die aus Weidenästen errichtet und mit Lehm abgedichtet worden war. Ein Feuer kokelte in der Mitte, der Rauch zog in dicken Schwaden durch ein Loch in der Decke ab. Hinten in der Ecke lag ein etwa sechsjähriger Junge zitternd auf einem Lager aus Laub und Reisig. Sein rechtes Bein war in blutige Stofffetzen gehüllt, der Fuß schien auf die doppelte Größe angeschwollen zu sein.
Pater Tristan kniete sich neben ihn und legte die Hand auf die schweißnasse Stirn des Knaben. »Das Fieber ist tatsächlich sehr hoch«, murmelte er. »Wir werden versuchen, es ein wenig zu senken.« Er griff in seinen Ranzen und reichte Agnes einen kleinen Lederbeutel. »Hier, koch uns daraus einen Sud aus Lindenblüten.«
»Aber ich weiß nicht …«, begann Agnes, doch unter Pater Tristans strengem Blick verstummte sie. Sie nahm den Beutel und machte sich daran, in einem rußigen Topf Wasser zu erhitzen, während die Bäuerin sie misstrauisch beobachtete.
»Was … was ist geschehen?«, fragte Agnes die Frau, um das Eis zu brechen.
»Graf Scharfenecks Männer waren das!«, zischte die Bäuerin. »Waren wohl auf der Jagd, die feinen Herren. Sind hier entlanggaloppiert und dann mir nichts, dir nichts über unsere frisch gesäten Felder. Die ganze Frühjahrssaat haben sie zertrampelt! Mein kleiner Georg hat unten am Fluss gespielt, den haben sie einfach umgeritten!«
»Das tut mir leid«, stammelte Agnes, während sie die Lindenblüten in das kochende Wasser schüttete. Sofort entstieg dem Topf ein aromatischer Duft.
»Ha, leidtun!«, blaffte das Weib. »Ihr hohen Herrschaften seid doch alle gleich! Deinem Vater ist es ja auch egal, was er anrichtet, wenn er hier durch die Felder reitet.«
»Das ist nicht wahr!«, protestierte Agnes.
»Doch, es stimmt.« Das war Pater Tristan, der sich kurz von dem kranken Buben erhoben hatte und sie ernst ansah. Schließlich lächelte er. »Dein Vater mag kein schlimmer Bauernfresser sein, Agnes, das nicht. Aber er ist auch kein Held. Vielleicht war er mal einer, als er in strahlender Rüstung gegen die Franzosen zog, jetzt ist er keiner mehr.«
Agnes schluckte schwer. War das die Lektion, die der Pater ihr erteilen wollte?
»Was ist mit dem Burschen, der dem Schäfer-Jockel bei der Flucht
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