Die Burg der Könige
»Du meinst, dass du dem Schäfer-Jockel geholfen hast?«
Mathis nickte. »Das hat sein müssen. Wenn schon die Annweiler Bürger den Schwanz einziehen, dann müssen eben wir einfachen Leute den Mächtigen zeigen, dass es so nicht weitergeht. Wir sind keine Verbrecher und Halsabschneider, wir wollen nur Gerechtigkeit. Gott hat alle Menschen gleich geschaffen!«
Seine Mutter schüttelte kummervoll den Kopf. »Mathis, Mathis«, sagte sie, »was sind das wieder für Reden? Wer hat dir so etwas beigebracht? Der Schäfer-Jockel? Lass das nur nicht den Vater hören, dem geht es ohnehin schon schlecht genug.«
»Was … was ist mit ihm?«
Sie seufzte. »Als er das von dir erfahren hat, hat er drei Tage nicht gesprochen, mit keinem, nicht mal mit mir. Seitdem ist der Husten immer schlimmer geworden, und seit letzter Woche muss er das Bett hüten. Ich darf nicht von dir reden, sonst wird er ganz wild.«
Mathis spürte, wie mit einem Mal aller Zorn aus ihm wich. Früher, als Kind, hatte er seinen Vater beinahe für den lieben Gott gehalten. Groß und stark war Hans Wielenbach gewesen, als der Burgvogt den fahrenden Handwerker samt seiner Familie vor über zehn Jahren in seine Dienste nahm. Damals waren sie noch zu fünft gewesen, doch der kleine Peter war schon bald darauf an der Brust der Mutter gestorben, und die große Schwester hatte ein schwerer Keuchhusten vor nunmehr fünf Jahren hinweggerafft. Mathis, der Mittlere, hatte immer seinen eigenen Kopf gehabt, und so waren die Streitereien mit seinem Vater mit der Zeit immer häufiger geworden. Auf einmal verspürte Mathis furchtbare Angst, der Vater könnte sterben, bevor er ihn noch einmal um Verzeihung gebeten hatte.
»Richte dem Vater einen Gruß von mir aus«, murmelte er mit stockender Stimme. »Sag ihm, es … es tut mir sehr leid, dass ich euch in diese Lage gebracht hab.«
Martha Wielenbach strich ihrem Sohn über die verdreckte Wange. »Ich werd’s ihm sagen. Bist halt doch ein braver Junge. Wirst sehen, alles wird wieder gut. Und nun iss endlich.«
Sie reichte ihm Brot und Käse aus dem Korb, und Mathis begann gierig zu essen. In den letzten Minuten hatte er ganz vergessen, wie hungrig er war.
»Von deiner kleinen Schwester soll ich dich lieb grüßen«, sagte Martha Wielenbach lächelnd, während sie ihrem Sohn beim Essen zusah. »Für sie bist du ein Held. Jedenfalls haben ihr das Bauernkinder unten von den Schlossäckern erzählt, und sie glaubt es natürlich. Ach, und von der Agnes soll ich dir das hier geben.« Sie reichte ihm ein zusammengefaltetes Stück Pergament.
»Was soll ich damit?«, fragte er ruppiger als beabsichtigt.
»Es werden wohl ein paar Zeilen an dich sein. Ich war immer so stolz, dass dir die Agnes das Lesen beigebracht hat.« Martha Wielenbach fasste ihren Sohn an den Schultern. »Mathis, du solltest nicht so streng mit ihr sein! Was kann sie denn dafür, dass ihr Vater dich hier eingesperrt hat. Ich weiß genau, sie setzt sich bei ihm immer wieder für dich ein.«
»Pah, was sie bei ihrem Vater ausrichten kann, hat sie ja schon bewiesen. Nämlich nichts!«
Trotz seiner Verärgerung nahm Mathis das Papier an. Seine Finger strichen verstohlen über den sorgfältig zusammengefalteten Zettel. Oben war nun erneut das Knirschen der Steinplatte zu hören. Martha Wielenbach blickte seufzend zur Decke.
»Ich muss wieder fort«, seufzte sie. Ein letztes Mal drückte sie ihren Sohn an die Brust, so fest, dass es ihm beinahe weh tat. »Wenn du den Burgvogt noch erweichen willst, hör auf mit diesen aufrührerischen Reden!«, mahnte sie. »Sei reumütig, dann wendet sich alles noch zum Guten.«
»Ich … ich werd’s mir überlegen, Mutter«, erwiderte Mathis kurz.
Martha Wielenbach hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn, dann fasste sie nach der Seilschlaufe, die wieder hinabgelassen worden war.
»Damit du’s weißt: Du bleibst immer mein Junge, egal, was geschieht«, raunte sie ihm noch zu, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Dann verschwand ihre Gestalt schaukelnd nach oben im Dämmerlicht des Schachts. Gleich darauf ertönte ein letztes Mal das Knirschen der Platte, dann war Mathis wieder allein mit seinen Gedanken.
Er hielt den zusammengefalteten Zettel vors Gesicht und roch daran. Der Zettel duftete nach Frühling und Sonne.
Und nach Agnes.
Langsam entfaltete Mathis das Papier und starrte es an. Agnes hatte ihm keinen Brief geschrieben, sie hatte ihm ein Bild gemalt! Ein Bild in leuchtenden Farben, das sie beide im
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