Die Capitana - Roman
politische Aktivisten unterschiedlichster Herkunft, in einer gemeinsamen Front gegen den Kapitalismus. Was die Pariser in zwei Monaten auf die Beine gestellt haben beweist, dass man die Macht übernehmen kann, wenn man nur klare Ziele hat und die geballte Kraft des Volks auf seiner Seite. Trotzdem sind sie gescheitert. Warum? Aus mehreren Gründen. Zunächst: Sie haben ihre internen Meinungsverschiedenheiten dem mächtigen gemeinsamen Feind zugeschoben, was sie geschwächt hat, zweitens: Sie haben keinen Plan aufgestellt.
Wie gut Hipólito redet, er trägt seine Ideen so überzeugt vor, dass es schwer fällt, anderer Meinung zu sein. Wie einnehmend er ist! Mika will sich nicht von dem Hochgefühl mitreißen lassen, das seine Worte in ihr bewirken, seine Gesten, seine ganze Art, nein, sie will besonnen bleiben, sie muss mehr über die Gruppe wissen, bevor sie sich ihnen anschließt: Wie sehen sie den Marxismus? Wäre die Doktrin auf Argentinien anwendbar? Der V. Kongress der Anarchisten des argentinischen Gewerkschaftsverbunds FORA hat sich gerade zu den Ideen der Russischen Revolution bekannt, was halten sie davon? Als Marx Das Kapital schrieb, hatte er kein Land wie die Sowjetunion vor Augen, sondern eine Industriegesellschaft, und trotzdem … Denkt ihr, ein Parlament kann die Probleme der Gesellschaft lösen? Nein, natürlich nicht, auch sie ist Antiparlamentarierin, die bürgerliche Demokratie ist doch keine echte Freiheit, sondern Betrug an den Ahnungslosen.
»Das Wichtigste ist, dass wir uns zusammentun«, hält Hipólito fest, »uns auf die Aktion vorbereiten. ›Die Revolution muss zuerst in den Köpfen stattfinden‹ ist das Motto der Gruppe Clarté in Paris, mit denen wir bereits in Verbindung stehen. Mika, hast du Henri Barbusse und Romain Rolland gelesen?«
»Noch nicht. Aber ich habe es vor.«
Kann Insurrexit also mit Mika rechnen?, möchte Pancho Piñeiro wissen. Aber Hipólito unterbricht: Sie braucht es nicht sofort zu entscheiden, sie soll in Ruhe darüber nachdenken; auf jeden Fall laden sie sie zu ihrer Versammlung am Samstag ein, zu der auch andere Compañeros kommen werden, in der Calle Suipacha Nummer 74. Dort wird sie noch mehr erfahren und … dann reden wir. Hipólito hält ihr die Hand hin, er sieht sie lange lächelnd an.
Und dieses Lächeln lässt das ganze Wohnzimmer der Pension erstrahlen, die Straße, das »Paradies«, wie der obere Teil des prächtigen Palacio Barolo heißt, den man vom Fenster aus sieht, den Frühlingsabend, ihr ganzes Leben.
Vor dem Besuch hatte Hipólito sich vorbereitet, er wusste, dass Micaela Feldman Anarchistin war (so wie er), dass sie Jüdin war (die Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung waren ein Schlüsselerlebnis für ihn gewesen) und dass eine ihrer Stärken darin bestand, Ideen zu vermitteln, und doch war er erstaunt, als er sie sah: dieser fröhliche, freche Ernst, dieser Blick, der sich streichelnd mit einem anlegte, diese scheulose, unverdorbene Re-spektlosigkeit, diese Kraft ihrer achtzehn Jahre, was für eine Persönlichkeit.
»Lass dich nicht von ihrem Temperament beeindrucken, Mika ist hitzig, aber sehr scharfsinnig. Und mutig«, sagt Pancho beim Hinausgehen aus der Pension, fast als wollte er sich entschuldigen.
»Dieses Mädchen ist unglaublich«, lacht Francisco. »Sie hat uns einem richtigen Verhör unterzogen!«
»Sie wird zu dem Treffen am Samstag kommen«, behauptet Hipólito. »Und sie wird für unsere Gruppe eine große Bereicherung sein.«
»Ich wusste, dass dir unsere alte Schulfreundin gefallen würde«, freut sich Pancho.
Und wie! Seine Freunde haben keine Ahnung, wie vor ein paar Stunden er selbst noch nicht, wie warm ist ihm ums Herz, seine Schritte federn, ein Freudentaumel, nur noch vier Tage, bis er sie wiedersehen wird, Mika Feldman.
Er hat mit so etwas nicht gerechnet, nicht danach gesucht, es ist nicht der Zeitpunkt, bei dem harten Leben, das Hipólito führt, seit er den Schoß der Familie hat verlassen müssen, aber er ahnt: Mika würde seine Gefährtin werden. Sie kann ihm die Kraft geben, die sein geschwächter Körper ihm abzieht. Das intellektuelle und gesellschaftliche Wagnis, das ihn erwartet, würde von nun an eine süße Seite haben, Mika.
Es ist das zweite Treffen der Gruppe im Haus der Handelsgewerkschaft, zu dem Mika geht. Dieses Mal wird sie reden, nimmt sie sich fest vor, nachdem sie letzten Samstag angesichts der vielen Leute vor Schüchternheit den Mund nicht aufbekommen hatte, obwohl sie die
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