Die Capitana - Roman
habe sie gesehen, wie sie in einer Mietskaserne in Rosario große Töne gespuckt haben über die politischen Rechte der Frau, über Emanzipation, während die Frauen, vor denen sie geredet haben, Hunger litten, zusammen mit Mann und Kindern in einem einzigen schäbigen Zimmer hausten. Wird sie das Wahlrecht aus dem Elend holen? Wird es ihnen Brot für ihre Kinder, Wärme im Winter bringen? So etwas werden sie sich gedacht haben. Und die Verfechterinnen des Frauenwahlrechts wunderten sich über die Gleichgültigkeit der Arbeiterinnen. Erbärmlich.«
»Über das Wahlrecht für Frauen will ich keine Prognose abgeben, aber das Wort haben sie schon jetzt. Und zwar ganz deutlich. Ist euch aufgefallen, dass man auf dieser Versammlung nur Frauen reden hört?« – Das Lachen, mit dem Juan Antonio Solari seine Frage abschließt, steckt alle an.
»Was willst du mehr?«, fordert Herminia ihn heraus.
Herminia und Juan Antonio wechseln einen vielsagenden Blick. Ob sie verliebt sind?, fragt Mika sich und findet an der Vorstellung Gefallen, als ob das zwischen ihnen aufflackernde Begehren den ganzen Raum aufladen, sie alle anstecken könnte. Wie beschwingend doch die Liebe ist, denkt sie, von sich selbst überrascht, sie ist doch gar nicht romantisch. Pancho Piñeiros Stimme reißt sie aus ihren Träumereien. Er liest einen bewegenden Artikel vor, den er »Hunger« nennen will. Wie gut Pancho schreibt. Anschließend stellt Hipólito vor, was er über die Russische Revolution in Insurrexit zu schreiben vorhat, er möchte darüber in der Gruppe diskutieren.
Ständig muss Mika an seine Worte, seine ernste Stimme, seine leuchtenden Augen denken, die ganzen letzten Tage. Und Nächte. Seit ihrer ersten Begegnung mit ihm hindert sie nicht nur sein strahlendes Bild am Einschlafen, einmal wird sie sogar mitten in der Nacht von einem sonderbaren Alptraum geweckt: ein Feld und ein Bach, ein helles Licht, Hipólito, der in tausend Splitter zerbirst, auf einmal weg ist, Mikas Magen krampft sich zusammen vor Angst, bis ein gellender Schrei sie endlich von diesem grauenhaften Feld zurückholt, auf dem Hipólito sich verflüchtigt, was für eine Erleichterung, sie sitzt im Bett in ihrem Zimmer in der Pension in der Calle Alsina. Welch schrecklicher Traum, der ihr gerade in Erinnerung gekommen ist, während sie Hipólito vor sich sieht, lebendig, unversehrt, leuchtend. Es muss an seiner Magerkeit, seiner Blässe liegen, dass sie so etwas Entsetzliches träumt. Hier vor allen Leuten wäre es ihr zu peinlich, aber sobald sie ihn unter vier Augen sieht, muss sie Etchebéhère sagen, dass er mehr essen und mehr schlafen soll. Selbst wenn sie sich damit unbeliebt macht, sie muss den Rat ihrer Mutter an ihn weitergeben.
Hipólito hat ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten: Sie könnten sich am Sonntag treffen, um Engels’ Ursprung der Familie zu lesen, und anschließend Lenins Staat und Revolution . Alle einverstanden?, fragt er in die Runde, doch sein leuchtender Blick bleibt an ihr hängen.
Sie ist nicht sehr überrascht, als Hipólito sie am Sonntag bei ihrer Verabschiedung an der Tür der Pension fragt, ob sie sich nicht am nächsten Tag treffen wollen, sie beide allein. Nachmittags um fünf an der Costanera Sur, am Brunnen von Lola Mora.
Und sie sehen sich am Dienstag gleich wieder, und am Donnerstag, am Samstag und am Sonntag, und genauso in der Woche drauf. Und so Monat für Monat. Die Liebe, einmal in Schwung gekommen, ist nicht mehr aufzuhalten. Gespräche, Spaziergänge, umschlungene Hände, Bücher, Diskussionen, zufällige Begegnungen und vertrauliche Worte, ein Kuss, der einen wortlosen Pakt besiegelt, Pläne, das Leben vor ihnen und die gemeinsamen Ziele, die Revolution, scheue Zärtlichkeiten und ein paar gewagtere, die Zeitschrift, die Genossen, die Russische Revolution.
An einem schwülen Januarabend 1921, die vierte Nummer von Insurrexit ist frisch aus der Druckerei gekommen und ihre Gewissheit, für einander geschaffen zu sein, größer denn je, tun Mika und Hipólito einen Schritt, der irgendwann hat kommen müssen, doch deshalb in dem Moment nicht minder überraschend ist.
Seine kräftigen Hände, die sie ertasten, seine vollen Küsse: Erregung; dieser wissende Körper, der den ihren entdeckt: Leidenschaft.
Diese feuchte Öffnung, die er kaum berührt: Erregung; dieser warme Brunnen, der ihn einlädt: Leidenschaft.
Obwohl sie an dem Sonntag, als Hipólito ihr die Hand auf die Schulter legte, eine Ahnung hatte, ist Mika
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