Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Capitana - Roman

Die Capitana - Roman

Titel: Die Capitana - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
einem anderen Viertel von Buenos Aires wohnen können, doch das Haus der Etchebéhères lag ausgerechnet an der Ecke Corrientes und Pueyrredón, mitten im jüdischen Viertel.
    Hipólitos Vater, Pierre Etchebéhère, war nach Argentinien gekommen, um in der Provinz Tucumán Telefonleitungen zu verlegen. Nach einigen Jahren, in denen er es weit gebracht hatte, kehrte er nach Frankreich zurück, schwer angeschlagen von einem Zungenkrebs, dem er schließlich erlag. Seine Mutter, Marie Andrieux, blieb mit ihren sechs Kindern in Buenos Aires und nahm die Geschicke der Familie in die Hand. Finanziell standen sie gut da. Die Kinder der Etchebéhères konnten studieren, ohne nebenbei arbeiten zu müssen. Hipólitos Brüder sollten die erste Filmproduktionsfirma in Argentinien gründen.
    Hippolyte, wie ihn seine Familie nannte (eigentlich hieß er Louis Hippolyte Ernest), hatte bereits an der staatlichen Industrieschule sein Technikdiplom erworben und studierte Ingenieurswissenschaften an der Universität von Buenos Aires, als sich die Vorfälle der Tragischen Woche ereigneten, die seinem Leben eine Wendung geben sollten.
    Der Streik der Stahlarbeiter im Vasena-Werk mündete in einer blutigen Schlacht mit der Polizei. Die Arbeiter forderten die Sechstagewoche und den Achtstundentag. Aber den Mächtigen war das zu viel, und sie schlugen sie brutal nieder.
    Der Gewerkschaftsverband FORA rief daraufhin einen Generalstreik aus, der die Stadt für eine Woche lahmlegte. In den erbosten Köpfen der Bourgeoisie, die die Russische Revolution als Bedrohung ansahen und verantwortlich für den Streik in den Vasena-Werken und überhaupt jeden Arbeiteraufstand, kam es zu einer folgenschweren Begriffsverwirrung.
    In Argentinien, diesem Einwanderungsland, bezeichnet man die Juden als Russen, egal, woher sie kommen, so wie man alle Araber Türken nennt und alle Spanier Galicier. Aber die jungen Leute von der Patriotischen Liga hatten für solche Feinheiten keinen Sinn, sie hatten sich vorgenommen, den Ereignissen eine andere Richtung zu geben, und schritten zur Tat: Sie bewaffneten sich und gingen auf die Straße, um ihrer nationalen Gesinnung freien Lauf zu lassen, ihrem glühenden Hass auf die »Russen«, also auf alle Juden, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Ideologie, ihrem Glauben, welche für sie eins waren mit den Sowjets. Ob Schneider, Verkäufer von Salzgebäck, jiddische Mame, Philosoph, Näherin, Tischler: Diesen subversiven Bolschewiken, diesen Vaterlandsfeinden musste man den Garaus machen. Hinter der bunten Truppe der Söhne aus gutem Hause fielen Polizeieinheiten in das jüdische Viertel ein.
    Als sie von der Festnahme ihres Sohnes erfuhr, eilte Marie Andrieux de Etchebéhère sofort zu dem verantwortlichen Beamten und bat um seine Freilassung: Aber er ist doch fast noch ein Kind. Sie war eine ehrbare Witwe, muss der Kommissar gedacht haben, eine Französin, keine Russin, und Hipólitos Brüder rechtschaffene und fleißige junge Männer. Für dieses Mal nur eine Standpauke, lenkte er ein, und nicht das Gefängnis in Usuahia, wo man ihn eigentlich hinschicken müsste, aber dass du mir so etwas nie wieder tust, verstanden, junger Mann? Nie wieder, mach deiner Familie keine Schande.
    Die Familie empfand ihn nicht als Schande, seine Mutter und seine Geschwister liebten ihn, auch sie – der eine mehr, der andere weniger – fanden die Angriffe auf die Juden skandalös, doch Hipólitos Reaktion erschreckte sie. Warum musste er sich da einmischen und sie alle in Gefahr bringen – griff sein Bruder ihn an. Er als der Älteste fühlte sich verantwortlich für die Familie und er würde ihm das nicht durchgehen lassen: dass er ihm nie wieder Schmähschriften verteile oder sich in Kämpfe einmische, die nicht die seinen sind, kapiert? Er soll ihren Frieden nicht gefährden, wenn er eine Wohnung, Essen und Ausbildung will, dann muss er sich auch entsprechend benehmen. Hipólito wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen, und da er wusste, dass er dem allen nicht tatenlos zusehen würde, zog er von zu Hause aus.
    Er hauste zur Miete in Zwischengeschossen, arbeitete in Werkstätten, aber nie lange, denn immer gab es Genossen, die man in ihrem Kampf unterstützen musste, und Werkstattmeister, denen die revolutionäre Propaganda, die Hipólito verbreitete, nicht gefiel. Er ernährte sich schlecht, bekam manchmal länger als einen Tag nichts zu essen, nur hin und wieder genehmigte er sich eine Mahlzeit, die seine Mutter ihm nie

Weitere Kostenlose Bücher