Die Champagnerkönigin
der Schwangerschaft so gut wie möglich hinter sich bringen. Da die Hebamme kurzfristig mit Keuchhusten darniederlag, hatte sie sich nun doch dazu entschlossen, Anfang Januar ins Krankenhaus nach Épernay zu gehen, um dort die Niederkunft in Ruhe abzuwarten. Die Ärzte und Schwestern, die Isabelle im Frühjahr die schreckliche Nachricht von Leons Tod hatten übermitteln müssen, freuten sich bestimmt, ihr nun in einer angenehmeren Angelegenheit zur Seite stehen zu können. Wenn es nur schon so weit wäre, dachte Isabelle nicht zum ersten Mal und rieb sich den schmerzenden Rücken.
Um elf Uhr hatte sie genug. Gähnend stand sie auf und verabschiedete sich. Die anderen waren so in Feierlaune, dass sie ihr nur kurz zunickten.
Die warme Bettflasche wartete unter Jacques’ alter Daunendecke auf sie. Auf dem Nachttisch brannte eine Kerze, daneben lag eine französische Ausgabe von Madame Bovary , ein Roman von Gustave Flaubert, den Isabelle schon vor Jahren auf Deutsch gelesen hatte. Noch ein paar Seiten und dann schlafen, dachte sie, während ihr Blick aus dem Fenster fiel. Inzwischen war aus dem verträumten weißen Weihnachtswetter ein ausgewachsener Wintersturm geworden, in dessen dichtem Schneefall man die Häuser auf der anderen Straßenseite nicht mehr sehen konnte. Wahrscheinlich war Daniel deswegen in Épernay geblieben.
Isabelle hatte gerade ihr Nachthemd übergezogen, als sie etwas Warmes, Feuchtes zwischen ihren Beinen verspürte. Erschrocken starrte sie auf die riesige Wasserlache auf dem Boden. O nein, bitte nicht das. Das Kind sollte doch erst in zwölf Tagen kommen! Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als ein krampfartiger Schmerz durch ihren Unterleib schoss. Wimmernd hielt sie sich am Fußteil des Bettes fest. Nach ein paar tiefen Atemzügen ließ der Schmerz nach. Doch schon im nächsten Moment kam er wieder, feuerrot und beißend zerrte er an ihren Eingeweiden und raubte ihren Atem. Hilflos schaute sich Isabelle im Zimmer um. Wenn es ihr gelang, sich zum Fenster hinüberzuhangeln, konnte sie es öffnen und um Hilfe rufen. Zu Ghislaine schaffte sie es bestimmt nicht mehr.
Mit großen Schritten marschierte Daniel durch die Nacht. Nie hätte er gedacht, dass er für den Weg von Épernay bis hierher so lange benötigen würde. Dabei hatte alles so gut begonnen! Ein befreundeter Winzer aus Hautvillers, der auf Verwandtenbesuch in Épernay gewesen war, hatte angeboten, ihn mit nach Hause zu nehmen, und Daniel hatte freudig zugestimmt. Doch nur wenige Meter hinter Épernay war der Einspänner über einen Stein oder ein anderes Hindernis gefahren. Im nächsten Moment hatte der Wagen zu trudeln begonnen. Ein Radbruch! Am Heiligen Abend. Und weit und breit keine Hilfe in Sicht. Da der Winzer bei seinem jungen und noch unsicheren Pferd hatte bleiben wollen, war es Daniel gewesen, der im einsetzenden Schneefall den ganzen Weg zurück in die Stadt gegangen war, um ein Ersatzrad aufzutreiben. In der Zeit wäre er längst zu Fuß daheim angelangt, ärgerte er sich, als sie zwei Stunden später endlich weiterfahren konnten.
Als er in Hautvillers ankam, schneite es so dicht, dass er kaum mehr die Hand vor Augen sehen konnte. Hoffentlich hatte Ghislaine ihm etwas zu essen aufgehoben, dachte Daniel, während sein Magen lautstark rumorte. Doch es war nicht allein Hunger, der ihm ein flaues Gefühl bescherte, sondern der Gedanke, Isabelle Feininger wiederzusehen.
In Ghislaines Haus brannte tatsächlich noch Licht, erkannte Daniel, als er in die Straße einbog. Die meisten der Nachbarhäuser hingegen lagen bereits im Dunkeln. Als Daniel zu Isabelles Haus hinüberschaute und auch dort Licht sah, verspürte er einen Stich der Enttäuschung. Sie war schon nach Hause gegangen.
Im nächsten Moment durchdrang ein Schrei die Nacht, so markerschütternd, dass er nicht einmal durch den dichten Schneefall gedämpft wurde. Daniel durchfuhr es heiß und kalt. Er warf sein Bündel zu Boden und rüttelte an Isabelles Haustür. Nichts rührte sich.
»Isabelle!«, rief er laut und warf sich so heftig gegen das massive Eichenholz, dass die Eisenbeschläge ein schepperndes Geräusch von sich gaben. Die Tür selbst gab keinen Zentimeter nach.
Ein weiterer Schrei. Gellend. Voller Angst. Die Tür einzutreten war ein Ding der Unmöglichkeit. Ob Claude Bertrand einen Schlüssel zum Haus hatte? Oder die Guenins? Ein langes Wehklagen, wie das eines Tieres, das in eine Falle geraten war, riss ihn aus seinen Überlegungen.
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