Die Champagnerkönigin
»Wie soll ich überhaupt einen Kopf haben für irgendetwas, was nicht mit Margerite zu tun hat? Meine Tochter braucht ab jetzt meine volle Aufmerksamkeit. Ich muss nach einem Spezialisten suchen, der ihr helfen kann, nach einer Schule, auf der sie später einmal gefördert wird, nach … ach, ich weiß es doch auch nicht.« Sie sank zusammen wie ein Blasebalg, aus dem alle Luft entwichen war. »Ich weiß nur, dass wieder einmal all meine Pläne über den Haufen geworfen wurden. Von nun an muss ich für mein Kind stark sein. Alles werde ich für sie tun, alles!«
In ihren Augen lag eine unverrückbare Bestimmtheit. Isabelle, die Tapfere.
Ihr Blick fiel auf die alte Küchenuhr über dem Spülbecken. »Gleich muss ich gehen, Margerite wartet bei Ghislaine auf mich. Ich werde sie fortan keinem Fremden mehr anvertrauen, ich war gestern nur so furchtbar … erschöpft.«
»Ghislaine ist eine Fremde?« Er hob die Brauen.
»So war das nicht gemeint«, wiegelte Isabelle eilig ab. »Aber ich kann doch niemandem ein krankes Kind zumuten! Was, wenn eine gesundheitliche Krise eintritt? Nein, ich muss selbst auf Margerite achtgeben. Außerdem hat Ghislaine bald genug mit ihrem eigenen Kind zu tun.« Isabelle sah aus wie eine Löwin, die man von ihren Jungen trennen wollte.
»Was ist, warum sagst du nichts?«, fragte sie nach einem langen Moment des Schweigens. »Findest du meine Pläne etwa nicht sinnvoll?«
Daniel schaute sie über den Tisch hinweg an. Eine tapfere Frau. Eine Kämpferin. Eine, die sich nur ungern helfen ließ. Ihre Welt war zusammengebrochen. Und sie hatte sich in ihrem Kopf eine neue Welt zurechtgelegt. Er konnte sie so gut verstehen, aber …
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss kurz die Augen, ehe er zu erzählen begann: »Als mein Vater starb, war ich acht Jahre alt. Ghislaine war zehn. Unser Vater hat sich umgebracht, das weißt du ja. Auf so tragische Art Waise zu werden, und das, nachdem wir Jahre zuvor schon unsere Mutter verloren hatten – die Leute im Dorf zerflossen vor lauter Mitleid mit uns. Niemand wagte es mehr, in unserer Gegenwart auch nur laut zu sprechen oder zu lachen, geschweige denn einen derben Witz zu machen. Alle schauten uns stets mit einer Grabesmiene an. Die zwei armen Waisen – das waren wir. Wir wurden nicht mehr eingeladen, wenn andere Kinder ihren Geburtstag feierten. Nicht einmal beim Äpfelstehlen wollte man uns dabeihaben, dabei war ich immer derjenige, der die höchsten Bäume erklomm. Aber alle glaubten, das Alltagsgeschehen würde einfach nicht zu unserer Trauer passen. Und deshalb schlichen sie stets auf Zehenspitzen um uns herum.«
Isabelle hörte ihm konzentriert zu, doch was sie von seiner Erzählung hielt, konnte er von ihrer Miene nicht ablesen. Als sie schwieg, fuhr er fort: »Wie oft habe ich mir gewünscht, dass sich jemand einfach mal ganz normal uns gegenüber benimmt! Dass ich eine Ohrfeige für meine Widerworte bekomme oder dass die Tante, bei der wir aufgewachsen sind, mir für meine Frechheiten Stubenarrest erteilt. Aber ganz gleich, wie aufsässig ich auch war, ich kam damit durch. Schließlich war ich das ›arme Kind‹. Dann begann ich den Leuten kleinere Streiche zu spielen und später größere. Sogar eine der Schutzhütten in den Weinbergen habe ich einmal angezündet, sie brannte lichterloh nieder. Alle wussten, wer hinter den Streichen steckte, aber niemals hat mich jemand zur Rechenschaft gezogen.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich heute darüber nachdenke – das ewige Mitleid der Menschen war für mich fast noch schlimmer als alles andere.«
Isabelles Miene war ernst. Sie saß mit gesenktem Kopf da und hörte zu.
Daniel langte über den Tisch und hob ihr Kinn leicht an, so dass sich ihre Blicke trafen. Mit großer Zärtlichkeit in der Stimme fuhr er fort: »Willst du deine Tochter durch eine übertriebene Fürsorge erst recht zum Krüppel machen? Willst du sie jeden Tag spüren lassen, dass sie ›nicht normal‹ ist?« Er schüttelte abermals den Kopf. »Wenn du Margerite wirklich helfen willst, dann behandle sie so normal wie möglich. Lass Sie einfach sie selbst sein. Wenn sie Hilfe braucht, bist du sowieso zur Stelle, und wir anderen sind es ebenfalls. Isabelle, du bist nicht allein!«, sagte er eindringlich. »Ghislaine, Claude und Micheline – wir sind für Margerite und dich da, immer.«
»Aber –«, hob Isabelle an.
»Kein Aber«, unterbrach Daniel sie bestimmt. »Margerite hat hier auf dem Weingut die
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