Die Champagnerkönigin
ganz Hautvillers!«
Isabelle lächelte gequält. »Ich weiß, du stehst kurz vor der Geburt … Trotzdem wollte ich dich fragen, ob du bereit wärst, Margerite ausnahmsweise über Nacht zu nehmen. Ich brauche mal ein wenig Zeit für mich allein.«
» Kein Problem «, sagte Ghislaine und legte beruhigend eine Hand auf Isabelles Arm. »Hier im Restaurant ist es heute so still, dass ich früher Feierabend machen werde. Dein Kind ist bei mir in den besten Händen. Und sollten tatsächlich heute Nacht die Wehen losgehen, dann kann immer noch Daniel auf deine Tochter aufpassen.«
Mit den müden Bewegungen einer alten Frau schloss Isabelle ihr Haus auf. Micheline, die gerade aus dem Nachbarhaus trat, winkte ihr zu, doch Isabelle tat so, als sähe sie sie nicht. Nicht sprechen. Mit niemandem. Allein sein. Sterben oder so tun als ob.
Drinnen roch es wie immer – nach den Arbeitsschuhen in der Kleiderkammer, an denen stets ein wenig Erde klebte. Nach dem eingelagerten Sauerkraut, den Äpfeln und alten Kartoffeln im Vorratsraum. Aus der Küche roch es nach Kaffee und geröstetem Weißbrot. Der Teller und die Tasse von ihrem Frühstück standen noch schmutzig auf dem Tisch. Alles war wie immer. Und doch war nichts mehr wie zuvor.
In der Diele stellte Isabelle ihre Tasche ab. Ihren Mantel hängte sie an einen der Haken. Daniel hatte heute seinen freien Tag, und das war gut, denn so konnte sie unbemerkt die Tür zum Keller öffnen und die schmale Treppe nach unten steigen. Sie wollte keinen Champagner, heute nicht und vielleicht nie mehr. Wie in Trance ging sie auf ein Holzregal zu, in dem Jacques seine Weinsammlung aufbewahrt hatte. Ohne nach dem Etikett zu schauen, ergriff sie die erstbeste Flasche. Rotwein. Sie schnappte sich gleich noch eine zweite. In der Küche holte sie einen Flaschenöffner und ein Glas. Sie hatte den ganzen Tag über nicht gegessen. Ihr Magen war randvoll mit Kummer und Angst.
Die Flaschen unter den Arm geklemmt, stieg sie die Stufen in den ersten Stock hinauf. In ihrem Schlafzimmer band sie die Stiefel auf, schleuderte sie von sich. Dann legte sie sich aufs Bett.
Der Wein schmeckte säuerlich und bitter. Das erste Glas trank sie in einem Zug aus, dann schenkte sie sich ein zweites ein und starrte ins Leere.
»Ein typisches Merkmal für Kinder, die am Down-Syndrom leiden.«
»Falls Sie meine Diagnose anzweifeln, können Sie gern einen weiteren Spezialisten aufsuchen. Ich empfehle Charles Fraudand in Paris …«
»Irgendetwas stimmt mit deiner Tochter nicht, du solltest dringend einen Arzt mit ihr aufsuchen.«
»Als Gott die Rebstöcke schuf, hat er sie auch nicht alle gleich gemacht. Ein jeder ist auf seine Art schön und einzigartig.«
Alle hatten es gewusst. Micheline mit ihren gepeinigten Blicken, wann immer sie die kleine Margerite anschaute. Daniel mit seinem Verweis auf die Reben. Wahrscheinlich auch Ghislaine und Claude. Clara war lediglich die Erste gewesen, die das Unheil beim Namen nannte.
Nur sie, die Mutter, war blind gewesen.
Down-Syndrom. Ein Name für etwas, was sie nicht verstand, nicht verstehen konnte und auch nicht wollte.
»Isabelle, seien Sie mir bitte nicht böse, aber … ich kann Ihr Kind nicht nehmen. Ich tue Ihnen jeden anderen Gefallen, wirklich, aber dass Sie ausgerechnet mir dieses Kind bringen wollen … Nein, das geht wirklich nicht.« Jetzt verstand sie auch Maries seltsame Reaktion, als sie sie gebeten hatte, auf Margerite aufzupassen. Mit einem behinderten Kind wollte die alte Nachbarin nichts zu tun haben.
» Der Junge starb nach drei Wochen – schrecklich war das. Der Arzt meinte, es bestünde die Gefahr, dass auch das nächste Kind nicht gesund zur Welt kommen würde. Da beschloss Marie, es nicht mehr darauf anzulegen.« – In einem ihrer ersten offeneren Gespräche hatte Micheline ihr von dem Unglück erzählt, das ihr Bruder und dessen Frau hatten erleiden müssen.
Sie, Isabelle, hatte damals nicht einmal richtig hingehört, zu viel Neues war in jenen Tagen auf sie eingeprasselt. Ein behindertes Kind, gewiss war das traurig. Aber das alles lag so lange zurück. Was ging es sie an?
Auf einmal wurde ihr so schlecht, dass sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Sie stellte das Weinglas ab. Mit Gewalt zwang sie sich zu schlucken, viel zu viel Spucke war in ihrem Mund. Ihr wurde schwindelig. Sie lehnte sich in ihr Kissen zurück, dann hob sie das Glas wieder an die Lippen und trank. Die Übelkeit machte Platz für ein Brennen in ihrer
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