Die Champagnerkönigin
»Bestimmt haben Sie Hunger, Madame, so setzen Sie sich doch. Ein einfaches Mahl, aber ich teile es gern mit Ihnen.« Er schob seine Strickjacke, die neben ihm auf der Holzbank lag, zur Seite, um ihr Platz zu machen.
»Schöner Spaziergang, von wegen! Ich habe eine äußerst unschöne Entdeckung in den Weinbergen gemacht«, sagte Isabelle heftig. Mit in die Seite gestemmten Händen fügte sie so vorwurfsvoll, als könnte der Verwalter etwas dafür, hinzu: »Stellen Sie sich vor, die Rebstöcke verlieren ihren ganzen Saft aus unzähligen Wunden! Ganz fürchterlich sah das aus …«
»Ist es schon so weit«, sagte Claude Bertrand mit gleichmütiger Stimme, während er von einer festen Wurst eine Scheibe absäbelte. »Dass die Reben weinen, ist kein Grund zur Besorgnis, das geschieht immer um diese Jahreszeit. Wenn sich der Boden erwärmt und die Temperaturen über neun Grad liegen, erwachen die Pflanzen aus ihrem Winterschlaf. Sie beginnen dann, aus sehr großer Tiefe Wasser nach oben zu ziehen. Ein Teil des Pflanzensafts tritt wieder aus, und zwar an genau den Stellen, wo die Reben im Herbst zurückgeschnitten wurden. Dieser Prozess dauert ein bis zwei Wochen und ist völlig harmlos. Les pleurs sagen die Winzer zu diesem Vorgang. ›Die Reben weinen‹.«
Isabelle schluckte. Les pleurs – hatte das der Kerl nicht auch vor sich hingemurmelt?
»Das ist … normal? Keine Sabotage?«
»Wie kommen Sie denn darauf?« Lächelnd hielt Claude ihr sein Messer entgegen, auf dem er ein Stück Wurst aufgespießt hatte.
Isabelle winkte fahrig ab, mit weichen Knien ließ sie sich neben dem Verwalter auf die Bank sinken. O weh, da hatte sie sich aber gründlich blamiert!
»Nun schauen Sie nicht so entsetzt drein, so etwas können Sie doch nicht wissen, Madame«, sagte der Verwalter gut gelaunt. Er schenkte ihr aus einer Flasche Rotwein in ein dickwandiges Glas ein und drückte es ihr in die Hand.
Benommen nahm Isabelle einen Schluck. Der Wein schmeckte ein bisschen nach Zitrone und Kräutern. Und er hatte eine belebende Wirkung.
»Ein gewöhnlicher Hauswein, gut genug für mich.« Claude Bertrand zuckte mit den Schultern. »So unwahrscheinlich es klingt, es gibt tatsächlich noch Winzer in der Champagne, die aus ihren Trauben etwas anderes als Champagner machen.«
»Aber mit Champagner wird doch viel mehr Geld verdient, oder etwa nicht?«, sagte Isabelle, froh über die Ablenkung. Ihr Magen knurrte vernehmlich, ein wenig befangen nahm sie sich eine Scheibe Brot aus dem Korb. Sogleich hielt Bertrand ihr ein kleines Butterfässchen hin.
»Das stimmt. Doch die Champagnerherstellung ist ein kompliziertes und langwieriges Geschäft. Manche Winzer lassen ihre Champagner ein Jahr lang liegen, andere sogar sechs Jahre oder länger, doch so lange ist dann auch ihr Geld gebunden. Und …« – er machte eine Pause, als wollte er sich ihrer Aufmerksamkeit versichern – »die Konkurrenz ist enorm! Stellen Sie sich vor, heutzutage gibt es über dreihundert Champagnerhersteller. Allein hier bei uns in Hautvillers leben ein gutes Dutzend vignerons . Die zwei größten sind Moët und Trubert. Und alle wollen verkaufen, verkaufen, verkaufen! Da wird Werbung gemacht auf Teufel komm raus. Da werden die besten Vertreter engagiert, großspurige Burschen in eleganter Montur und mit besten Kontakten, die sich ihre Arbeit gut bezahlen lassen. Da werden moderne Maschinen angeschafft – das alles kostet enorm viel Geld. Um in dieser Branche erfolgreich tätig sein zu können, muss man eigentlich schon vorher wohlhabend sein.«
Teure Werbung, großspurige Vertreter und moderne Maschinen? Mit bangem Herzen dachte Isabelle an ihren leeren Geldbeutel und ihren Rad fahrenden Ehemann.
»Feininger-Champagner hat aber doch auch einen sehr guten Ruf in der Branche, nicht wahr?«, sagte sie und hielt den Atem an.
Der Verwalter zuckte erneut mit den Schultern. »Solche Fragen stellen Sie besser Gustave Grosse, ich bin hier nur fürs Grobe zuständig.«
Isabelle seufzte innerlich. Es war offensichtlich, dass sich Claude Bertrand nicht in die Belange des Kellermeisters einmischen wollte. Sie räusperte sich.
»In den Weinbergen ist mir ein sehr seltsamer Bursche über den Weg gelaufen … Ich frage mich, was er dort zu suchen hatte.«
»Wie sah er denn aus, dieser … Bursche?«
Isabelle überlegte angestrengt. Sie war so erregt gewesen, dass sie auf Einzelheiten gar nicht geachtet hatte.
»Ein Mann Ende zwanzig. Nicht sehr groß, aber drahtig.
Weitere Kostenlose Bücher