Die Chancellor
dann ein-
schiffen können.«
»Sie haben also noch immer nicht alle Hoffnung auf-
gegeben?« fragte ich Robert Kurtis sehr erstaunt.
»Die Hoffnung darf nie zu Schanden werden, Mr.
Kazallon, selbst unter den allerschlimmsten Verhält-
nissen nicht. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß,
wenn unter 100 Chancen 99 gegen uns sind, doch die
hundertste uns gehört. Wenn mich meine Erinnerung
nicht trügt, befindet sich die halbversunkene Chancel-
— 147 —
lor in genau derselben Lage, wie im Jahr 1795 der Drei-
master Juno. Länger als 20 Tage hat dieses Schiff sich
halb im Wasser schwebend gehalten. Passagiere und
Mannschaften waren in die Takelage geflüchtet, und als
man endlich an Land trieb, wurden alle, die nicht den
Strapazen und dem Hunger erlegen waren, glücklich ge-
rettet. Es ist das ein in den Annalen der Seefahrten zu
bekanntes Faktum, als daß es mir gerade jetzt nicht wie-
der in den Sinn kommen sollte. Nun, Mr. Kazallon, es
liegt kein Grund vor, daß die Überlebenden der ›Chan-
cellor‹ nicht ebensoviel Glück haben sollten, wie die der
Juno.«
Man konnte Robert Kurtis wohl so manches dagegen
halten, aus dem Gespräch geht aber doch hervor, daß
unser Kapitän noch nicht jede Hoffnung verloren habe.
Da sich die Bedingungen des Gleichgewichts je-
den Augenblick ändern können, werden wir doch die
›Chancellor‹ früher oder später verlassen müssen. Auch
bleibt es dabei, daß morgen, sobald der Zimmermann
damit fertig ist, das Floß bestiegen werden soll.
Nun stelle man sich die dumpfe Verzweiflung der
Mannschaft vor, als Daoulas gegen Mitternacht die Be-
merkung macht, daß das Gestell des Floßes verschwun-
den ist. Die Leinen waren, obwohl man darauf geach-
tet hatte, nur haltbare zu verwenden, bei dem Auf- und
Abschwanken des Fahrzeugs gerissen, und etwa seit ei-
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ner Stunde trieb der Unterbau des Rettungsfloßes in der
weiten See.
Als die Matrosen dieses neue Unglück vernahmen,
ließen sie manchen Verzweiflungsschrei erschallen.
»Ins Meer! Ins Meer! Die Masten kappen!« riefen sie
halb von Sinnen.
Sie wollen die Taue zerschneiden und die Untermas-
ten ins Wasser stürzen, um sofort ein neues Floß daraus
herzurichten.
Aber Robert Kurtis mischt sich ein.
»Auf euern Posten, Jungs!« rief er. »Daß kein Faden
ohne meinen Befehl zerschnitten wird! Die ›Chancel-
lor‹ ist im Gleichgewicht! Die ›Chancellor‹ geht noch
nicht unter!«
Bei der entschiedenen Stimme ihres Kapitäns gewinnt
die Mannschaft wieder einige Besinnung, und trotz der
bösen Absicht einiger unter ihnen begibt sich jeder wie-
der auf den ihm angewiesenen Platz.
Sobald der Tag graut, steigt Robert Kurtis so weit wie
möglich in die Höhe, und sein Blick durchschweift for-
schend den Umkreis um das Schiff.
Unnützes Suchen! Das Floß ist längst außer Sicht-
weite! Soll man die Jolle bemannen und ausfahren um
es zu suchen ? Auch das ist unmöglich, denn die See geht
so hohl, daß das kleine Fahrzeug ihr nicht zu widerste-
hen vermag. Man muß sich demnach zur Konstruktion
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eines neuen Floßes entschließen und ohne Zaudern an
die Arbeit gehen.
Inzwischen sind die Wellen immer stärker geworden.
Mrs. Kear hat sich endlich entschlossen, den Platz auf
dem Oberdeck zu verlassen, auf dem sie übrigens in ei-
nem Zustand vollständiger Willenlosigkeit lag. Mr. Kear
hat sich mit Silas Huntly im Mastkorb des Besanmasts
eingerichtet. Neben Mrs. Kear und Miss Herbey befin-
den sich die Herren Letourneur, alle auf der in ihrem
größten Durchmesser höchstens 12 Fuß messenden
Plattform eng aneinandergedrückt. Von einer Stricklei-
ter zur anderen hat man Seile angebracht, an die sich
die Insassen bei dem Schwanken des Schiffes festhal-
ten können. Robert Kurtis hat auch noch ein Dach zum
Schutz der beiden Frauen über dem Mastkorb anbrin-
gen lassen.
Einige Fässer, die nach dem Sinken zwischen den
Masten schwimmen, hat man rechtzeitig aufgefischt,
und an den Stagen sicher befestigt. Es sind das Behäl-
ter mit Konserven und Zwieback, sowie einige Fässer
Trinkwasser – unser ganzer Vorrat an Lebensmitteln!
26
5. Dezember. – Der Tag ist warm. Unter dem 16. Brei-
tengrad ist der Dezember kein Herbst-, sondern ein
vollkommener Sommermonat. Wenn der Luftzug nicht
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die Glut der Sonne mildert, dürften uns noch grausame
Leiden durch sie bevorstehen.
Die See geht noch immer sehr hohl. Der zu drei
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