Die Chancellor
jungen Mäd-
chen, und sein Gesicht überfliegt ein Schatten von
Traurigkeit.
Gegen 8 Uhr abends ist das Untergestell des Flosses
fast fertig. Man ist jetzt dabei, leere, luftdicht verspun-
dete Fässer hinabzuschaffen, die die Schwimmkraft des
Apparats erhöhen sollen, und die man sorgfältig zwi-
schen den Stämmen anbringt.
2 Stunden später erschallt ein lautes Geschrei auf
dem Oberdeck, und Mr. Kear kommt mit dem Ausruf
herauf:
»Wir sinken! Wir sinken!«
Sogleich erblicke ich auch Miss Herbey, wie sie die
bewußtlose Mrs. Kear heraufschleppt.
Robert Kurtis eilt in seine Kabine, aus der er eine
Karte, einen Sextanten und eine Bussole geholt hat.
Unter lautem Verzweiflungsgeschrei herrscht die
größte Verwirrung an Bord, und die Mannschaft stürzt
nach dem Floß, dessen Gestell ohne Überbau sie ja doch
noch nicht aufzunehmen vermag.
Es ist mir unmöglich, weder die Gedanken zu schil-
dern, die jetzt durch mein Gehirn jagen, noch das
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schnelle Vorüberziehen der Bilder aus meinem ganzen
Leben zu malen! Meine ganze Existenz scheint sich zu-
sammenzudrängen in diesen letzten Augenblick, der sie
abschließen soll! Ich fühle, wie sich die Planken unter
meinen Füßen biegen, und sehe das Wasser rings um
das Schiff aufsteigen, so als ob der Ozean sich unter ihm
aushöhlte.
Einige Matrosen flüchten sich auf die Strickleitern
und stoßen verzweifelte Flüche aus. Ich versuche ihnen
zu folgen . . .
Eine Hand hält mich zurück, und ich sehe Mr. Le-
tourneur, der auf seinen Sohn weist, während ihm große
Tränen aus den Augen perlen.
»Jawohl«, sage ich und drücke ihm krampfhaft die
Hand, »wir zwei, wir werden ihn retten!«
Noch bevor ich aber bis zu ihm gelange, hat Ro-
bert Kurtis schon André Letourneur umfaßt, und trägt
ihn nach dem Mastkorb des großen Masts, während
die ›Chancellor‹, die der Wind bislang noch ziemlich
schnell forttreibt, plötzlich still hält. Es folgt eine heftige
Erschütterung des Fahrzeugs.
Das Schiff sinkt! Das Wasser erreicht schon meine
Beine. Instinktiv erfasse ich ein Seil . . . aber plötzlich
steht das Schiff wieder, und die ›Chancellor‹ bleibt,
nachdem das Verdeck etwa 2 Fuß unter das Wasser ver-
sunken ist, unbeweglich!
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Die Nacht vom 4. zum 5. Dezember. – Robert Kurtis hat
den jungen Letourneur aufgehoben, eilt mit ihm über
das überschwemmte Verdeck und setzt ihn auf die
Strickleiter am Steuerbord. Sein Vater und ich, wir klet-
tern zu ihm hin.
Dann blicke ich um mich. Die Nacht ist hell genug,
um erkennen zu können, was ringsum vorgeht. Robert
Kurtis ist auf seinen Posten zurückgekehrt und steht auf
dem Oberdeck. Ganz rückwärts, nahe dem noch nicht
überfluteten Hackbord, gewahre ich Mr. Kear, seine
Frau, Miss Herbey und Falsten; auf der äußersten Spitze
des Vorderkastells den Leutnant und den Bootsmann,
in den Mastkörben und auf den Strickleitern den Rest
der Mannschaft.
André Letourneur ist nach dem Mastkorb des Groß-
masts geklettert, mit Hilfe seines Vaters, der ihm den
Fuß Stufe für Stufe heben mußte, und trotz des Rollens
ist er ohne Unfall hinaufgekommen. Mrs. Kear Vernunft
beizubringen, ist freilich unmöglich gewesen; sie bleibt
auf dem Oberdeck und läuft Gefahr, von den Wellen
weggespült zu werden, wenn der Wind noch mehr auf-
frischt. Auch Miss Herbey hält bei ihr aus, da sie jene
nicht verlassen will.
Robert Kurtis’ erste Sorge nach dem Aufhören des
Sinkens war es, alle Segel abnehmen und alle Stengen
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und die Obermasten herabsenken zu lassen. Hierdurch
hoffte er das Kentern der ›Chancellor‹ zu verhindern.
Kann er aber nicht jeden Augenblick ganz untergehen?
Ich begebe mich zu Robert Kurtis und richte diese Frage
an ihn.
»Das kann ich nicht wissen«, erwidert er mir mit dem
ruhigsten Ton, »denn das hängt ganz von dem Zustand
des Meeres ab. Gewiß ist für jetzt nur, daß das Schiff
sich im Gleichgewicht befindet; leider können sich diese
Verhältnisse aber in jeder Minute verschlimmern.«
»Kann die ›Chancellor‹ noch, mit 2 Fuß Wasser über
dem Deck, segeln?«
»Nein, Mr. Kazallon, wohl aber kann sie unter dem
Einfluß des Windes und der Strömung abweichen, und
wenn er sich einige Tage so hält, doch irgendeinen Küs-
tenpunkt anlaufen. Übrigens haben wir als letzte Zu-
flucht das Floß, das in wenigen Stunden fertig sein muß,
und auf dem wir uns, sobald der Tag anbricht,
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